Markant und äußerst stark: Friedenstraße 9, Lienzingen. Das Glanzstück aus dem Dreißigjährigen Krieg liebevoll saniert
Das Dorf der Superlative:
Ein weiterer Prachtbau, ein besonderer schon gar: Den das Ende April 2022 auslaufende, vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Mühlacker seit 2006 gemeinsam gestemmte Sanierungsprogramm Ortskern Lienzingen im wahrsten Sinne des Wortes in seiner gesamten Schönheit voll zu Tage förderte. Einer der Juwelen des Lienzinger Ortskerns nennt der Bauforscher Tilman Marstaller dieses Anwesen an der Friedenstraße mit der Hausnummer 9. Zumal es auch für fast 400 Jahre Ortsgeschichte steht.
Vor vier Jahren unterschrieben die jetzigen Eigentümer aus Vaihingen an der Enz, Michaela und Klaus Küchle, den Kaufvertrag für das damalige Ölschläger‘sche Haus. Inzwischen wohnen sie nach der liebevollen Sanierung in den historischen vier Wänden, fühlen sich sichtlich wohl. Dies, ihr neues Zuhause, steht vis-a-vis des 1719 errichteten Rathauses, heute mit Etterdorfstube und städtisches Museum mit einer Sammlung der schönsten Christbaumständer.
Seit wenigen Tagen ist das inzwischen sanierte Wohnhaus entrüstet - das Gerüst abgebaut, der Blick frei auf die herausgeputzte Fassade des 1624 und damit bereits zuzeiten des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) gebauten Fachwerkhauses. Zum Ensemble gehört die rückwärtige Scheuer. Deren Baujahr laut dendrochronologischer Datierung: plus/minus 1560.
Trotz eigenem Lienzinger Forst: Bel besonders großen Bauwerken waren die Handwerker offenkundig auf den Import von Tannen, Fichten und Kiefern aus dem Schwarzwald angewiesen. So bezogen auch die Lienzinger die Nadelhölzer über den Floßholzhandel an der Enz. In Zeiten großer Bauholznot, wie zum Beispiel im frühen 17. Jahrhundert, wurden die geflößten Nadelholzer zum Ersatz für die lokal fehlenden Bauhölzer, wie bei Friedenstraße 9.
Das Gebäude ist heutzutage, aus gute, Grund, auch eine der 26 Stationen des Historischen Ortsrundweges. Der Text auf der während der Sanierungsarbeiten entfernten Tafel legt denn auch den Schwerpunkt auf die Vielzahl der Floßaugen, dreieckige Bohrlöcher, durch die die Langholzstämme zusammengebunden wurden, wodurch während der Fahrt flussabwärts weniger Personal notwendig war. Flößer transportierten das Holz aus dem Schwarzwald auf den Wasserstraßen wie der Enz.
An der Fassade sind mehrere Floßaugen zu erkennen. Insgesamt ein halbes Dutzend an und im Gebäude entdeckte vor gut vier Jahren der Fachmann. Es dürften aber noch deutlich mehr sein, denn hier scheint ein Großteil der Bauhölzer über die Enz bezogen worden zu sein, schreibt Tilman Marstaller in dem Buch mit dem etwas sperrigen Titel Enz-Floßholzverwendung in älterer Bausubstanz (S. 146). Als ahnte er es schon. Tatsächlich entdeckten die neuen Eigentümer weitere.
Marstaller widmet in seinem Beitrag über die Ergebnisse der Suche nach Floßaugen, einem Forschungsprojekt mit dem Schwäbischen Heimatbund (SHB), dem Kulturdenkmal Friedenstraße 9 – eines von 85 im Ort – einen eigenen Abschnitt. Markant und äußerst stark nennt der Mittelalterarchäologe die traufseitige Vorkragung des zweigeschossigen Fachwerkhauses. Begeistert ist er demnach von der aufwändigen Farbausgestaltung, von der sich im ersten Dachgeschoss noch größere Teile unverändert erhalten haben. Das schrieb Marstaller 2018, also noch vor der Sanierung. Jetzt danach dürfte er zu Freudensprüngen ansetzen.
Toll! Das Werk ist höchst gelungen. Ein Gang durch die Räume zeigt, dass moderne Wohnansprüche und Denkmalschutz sich nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil. Ein Objekt wie aus dem Bilderbuch der Restaurierung - von solchen hat Lienzingen noch mehr zu bieten.
Wer mit Empathie sich eines solchen Stücks Kulturgeschichte annimmt, dem schmälert dies zwar, trotz Zuschüssen der öffentlichen Hand, den eigenen Geldbeutel, entschädigt jedoch durch Freude am Gelingen, der Bewunderung des Ergebnisses in diesem Fall fast vierjähriger Arbeit, und die Zufriedenheit, einen konkreten Beitrag zur Wahrung dessen geschaffen zu haben, was wir von den vorhergegangenen Generationen geerbt haben. Kulturgut.
Das alles verbindet Wohn- mit Lebensqualität. Die amtlichen Denkmalschützer ließen auch Raum für Veränderungen, soweit sie in das gewachsene Bild passen. So zum Beispiel der nahtlos in den historischen Bestand übergehende, angefügten, weiß gestrichene Wintergarten mit Blick auf Scherbentalbach, Krautgärten und Gemeindehalle.
Möglich wurde dieser unerwartete Durchblick, weil ein Zwischenbau, historisch nicht wertvoll, abgebrochen werden durfte. Rasen, Blumen und Sitzsteine statt Mauerwerk. Dass sich auch Denkmalschutz und Klimaschutz harmonisieren können, lässt sich hier gut demonstrieren. Die Photovoltaikanlage, die Strom aus Sonne spendet, ist mit einem Ziegelrot ähnlichen Farbton angepasst an das Dach der mehr als 460 Jahre alten Scheune. Ein Musterfall!
Wenn die Steine reden könnten, hätten sie viel zu erzählen. Denn das Anwesen überstand den Einfall französischer Truppen am 24. September 1692, die zuerst plünderten und dann nahe der Peterskirche den Ort anzündeten. Der Feuersbrunst fielen in des Dorfes Mitte insgesamt 31 Fachwerkhäuser zum Opfer. Nach dem langen Krieg hatte Lienzingen gerade einmal knapp 100 Einwohner.
Jahrhundertlang trennten Haus und Straße nur ein kleiner Streifen, heute der Bürgersteig. Das Leben der Bewohner spielte sich ab gleich neben einem stark befahrenen Verkehrsweg, der heutzutage Bundesstraße wäre. Vorher, im 13./14. Jahrhundert profitierte die Ortschaft von der jetzt zum bedeutenden Handelsplatz Frankfurt führenden alten Römerstraße als Geleitstation in Richtung Knittlingen, dann wurde es württembergische Staatsstraße 113, die Reichsstraße 35, schließlich die Bundesstraße 35 - so rollte quasi an der guten Stube der Durchgangsverkehr vorbei. Bis zum 1. November 1951, als die Umgehungsstraße fertiggestellt wurde.
Die entlang der Ortsgrenze verlaufenden, aneinandergereihten Scheunen, die sich von außerhalb des Dorfetters betrachtet scheinbar zu wehrhaften Riegeln formieren, sind typisch Lienzingen. Besonders gut ist diese charakteristische Ortsstruktur Lienzingens noch an der Friedenstraße, der Knittlinger Straße, der Spindelgasse, sowie vor allem im oberen Teil der Herzenbühlgasse erhalten. Das bis heute gut ablesbare, bäuerliche Haufendorf Lienzingen ist einer der am besten erhaltenen Orte im Enzkreis.
Freilich, Stadt und Denkmalschützer müssten ein Auge auch auf das legen, was sich einen Steinwurf weiter am Dach einer historischen Scheune zeigt - ein riesiges Loch. Keine kommunale oder staatliche Stelle wagt sich an eine Ersatzvornahme. Dabei wäre es wichtig, der zerstörerischen Wirkung von Regenwasser zu begegnen und das Dach wieder zu schließen. Oder läuft das alles auf einen weiteren Abbruch hinaus? Gewollt oder bewusst in Kauf genommen!? Nach dem Motto: Man muss nur lange genug warten, dann ist die Wirtschaftlichkeit und Zumutung einer Sanierung nicht mehr belegen.
Hier fehlt es an Konsequenz! Kommune und Denkmalamt drücken sich sich um eine entsprechende amtliche Verfügung, scheuen die rechtliche Auseinandersetzung.
Mehr hier:
Enz-Floßholzverwendung in älterer Bausubstanz. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse. Herausgegeben Schwäbischer Heimatbund, Regionalgruppe Stromberg/Mittlere Enz. Maulbronn. 2018. Selbstverlag.
Altes Haufendorf, moderne Gemeinde. Ortsbuch Lienzingen. Konrad Dussel und weitere Autoren, 2016. Verlag Regionalkultur
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