Der von der Hinteren Gasse und die Frischzellenkur für Kulturdenkmale

Quartiers-Report Hintere Gasse.

Hintere Gasse, Herzenbühlstraße – der Stoff für meine ganz eigene Quartier-Geschichte.  Gemischt, durchmischt, Notizen von Menschen mit Empathie für Fachwerk, ihrer aktuellen Frischzellenkur für die frühere Zehntscheuer und den Häusern Nummer 3 und 4. Meine Geschichte, weil ich dort in einer der schönsten Gassen des Enzkreises aufwuchs, um Streiche nie verlegen und ständig auf Tour. Dort starb an einem trüben April-Sonntag mein Vater, dort startete ich aber auch in den Journalismus, fand die Arbeit in der Jungen Union plötzlich interessanter als Unterricht und Vokabeln pauken (heute weiß ich, dass die Rangfolge falsch war) . . . In einer Arbeiterfamilie von damals konnten die Eltern dem Filius selten bei den Hausaufgaben helfen. Die Sache mit der Herkunft und ihre Folgen. 

Die frühere Zehntscheuer wandelt sich zu einem Wohnhaus.(Aufnahme Februar 2022)

Aus dem gleichen Blickwinkel: die Scheuer im Jahr 2019

Die Hintere-Gasse-Story bunt, persönlich, kommunal. Dabei plante ich eigentlich nur Bild + Text für den Blog zu den aktuell größten Projekten vor dem Auslaufen des Sanierungsprogramms Ortskern Lienzingen Ende April 2022 (dem möglichst 2023 ein neues folgen soll). Mächtig stolz können wir sein über dieses private Engagement. Ergänzen sie doch mit ihren Schmuckstücken in spe die vorhandene prächtige Fachwerkfront zur Straße hin.  

Der, der aus der Herzenbühlstraße kam. Zwischen heutiger Knittlinger Straße, nördlichem und östlichem Scheunengürtel, sowie Scherbentalbach von 1952 bis 1957 in der heutigen Knittlinger Straße 8, danach bis Ende November 1970 in der Herzenbühlgasse 25 (dann noch zwei Stationen: später Brühlstraße und seit 1984 Lohwiesenstraße -  eigenes Häusle, mit Fachwerk und aus Holz auch in einem Neubau? Bewusst ja, wiewohl sich damit selbst Zimmerleute vor mehr als vier Jahrzehnten schwertaten. Handwerkskunst verschludert: Stadt der herkömmlichen Zapfenverbindung zwischen den Balken schnell Metallstücke über das Eck angeschraubt. Mich schaudert dies heute noch - so klein sie auch sind, manchmal geraden sie doch ins Blickfeld.

Immer der Heimatort. Scherzhaft die Frage: Aus Lienzingen nie hinausgekommen?  - Die Antwort: Doch, aber bald immer zurückgekehrt. Muss einen Grund haben. Anderen geht es wohl auch so.

Etwa1954 auf dem Traktor von Landwirt Kontzi in der Hinteren Gasse: Gerhard vorwitzig am Steuer. Beate mutig, Rolf und Günter trauen den Fahrkünsten dann doch nicht

 

Der aus der Hinteren Gasse: als Lienzinger Kandidat für den Mühlacker Gemeinderat im September 1975

Hintere Gasse? Amtlich ist die Gasse auf jeden Fall eine Straße. Das steht fest. Was gilt nun?  In einem alten Plan, der auch im kleinen Saal der Gemeindehalle Lienzingen an die Wand projiziert wurde, war es die Hintere Gasse - und alte oder auch jüngere Lienzinger verwenden heute noch gerne dieses Wort. Mir rutscht dieser Name  auch öfters heraus.

Doch eine Akte aus dem Stadtteilarchiv Lienzingen enthält eine Straßenaufstellung für Lienzingen vom 22. Dezember 1969, unterzeichnet von Bürgermeister Richard Allmendinger. Dort ist noch die Herzenbühlgasse aufgeführt, aber bereits handschriftlich mit Bleistift in „-straße“ geändert worden. So blieb es auch 1972 im Zuge der Umstellung von durchlaufenden Gebäude-Nummern auf straßenweise vergebene Haus-Nummern.

Jetzt kommt der aus der Hinteren Gasse, murmelte Bernhard Braun, sozialdemokratisches Urgestein, Eisenbahner, verdienstvoller Stadtrat und zeitweise stellvertretender Bürgermeister so vor sich hin, dass ich seine Worte hören sollte.

Das war im Herbst 1975 im Saal der Feuerwache an der Rappstraße in Mühlacker. Mit gerade 24 Jahren war es meine erste Sitzung als Ratsmitglied, quasi als die eine Hälfte der Lienzinger Vertretung, die mehr als ein Vierteljahr nach der Zwangseingemeindung im September 1975 gewählt worden war.

Ja, ich war der aus der Hinteren Gass. Dabei wohnten meine Mutter und ich damals schon seit fast sechs Jahren in der Brühlstraße 14. Hintere Gasse? Im Flecken das andere Wort für Herzenbühlgasse oder -straße. Hintere Gasse als Synonym für das Letzte? Der Braun`sche Ausspruch blieb ein Rätsel. Bei ihm hatte ich jedenfalls meinen Ruf weg.

Leute aus der Hinteren Gasse: Heinzmann. Landwirt und Wengerter aus der Herzenbühlgasse bei der Traubenernte. (Foto: Gerhard Schwab)

Mit 16 in der Jungen Union, mit 18 in der CDU. Der junge politische Gegner, der 1975 den christdemokratischen Gemeinderatswahlkampf managte mit dem Ergebnis, dass die Union mit nun 13 Sitzen erstmals die stärkste Fraktion stellte. Darunter ausgerechnet einer, der mit Leserbriefen gegen die Eingemeindung wider des Lienzinger Willens gekämpft hatte. Der Polit-Elite im Mühlacker Rathaus passte der ganze Kerl nicht, der bei der Zeitung in Ludwigsburg als Redakteur arbeitete.

Seitdem vergingen 47 Jahre.

Was später kam.

Zur Einstimmung ins Kapitel Sanierung ein Blick in eine Sitzungsvorlage für den Gemeinderat Mühlacker vom Juli 2016.  Das sagte die Stadtverwaltung: 

  • Der Zustand des Gebäudes ist schlecht, allerdings könnte auch dieses Gebäude wieder ein Schmuckstück werden (Herzenbühlstraße 3).
  • Die Scheune befindet sich im Eigentum einer Erbengemeinschaft. Der Verfall der Scheune hat begonnen. Sollte man nicht bald handeln, steht zu befürchten, dass die Scheune zusammenbricht (Herzenbühlstraße 27, ehemalige Zehntscheuer).
  • Ein Lienzingen-Kenner dazu: Wegen dieses früheren Bauernhofs mit Scheune schlug der Mittelalterarchäolge Tilman Marstaller bei einem Rundgang Alarm: Mit dem 1608 errichteten Gebäude Herzenbühlstraße 3 droht eines der ältesten Häuser des Etterdorfs leider zu zerfallen

Jetzt am Wochenende schickte ich zwei Fotos von der ehemaligen Zehntscheuer exemplarisch ins Rathaus – das Gebäude 2019 und am vergangenen Samstag.  

Es ist in der Tat sehr erfreulich, wie sich die Zehntscheuer entwickelt hat. Es war zu befürchten, dass das Gebäude abgeht, wenn nicht sehr bald etwas geschieht – insofern Rettung in letzter Minute dank eines sehr engagierten Investors, lobt Armin Dauner, Leiter des Baurechts- und Planungsamtes der Stadt zurecht in seiner Replik darauf.

Mit dem 1608 errichteten Gebäude Herzenbühlstraße 3 droht eines der ältesten Häuser des Etterdorfs leider zu zerfallen, beklagte noch 2018 Tilman Marstaller. Doch dann meldete sich ein Ehepaar aus Bretten mit Herz und Verstand, kauften es und begannen das Unternehmen Sanierung.
Herzenbühlstraße 3 im Jahr 2020. Die großen Schaden stechen ins Auge

Das Areal Herzenbühlstraße lebt, ist vital, beweist auch, welch hohe Wohnqualität ein altes Fachwerk birgt, wenn es saniert ist, gepflegt und sachgerecht unterhalten wird. Ein Gang durch das Quartier zeigt: Irgendwo und irgendwas wird immer gebaut - – dank den finanziellen Sanierungshilfen von Land und Stadt. Mein wichtigster politischer Erfolg. Nach zwei Ablehnungen durchs Land schaltete ich unseren Landtagsabgeordneten Winfried Scheuermann ein, der den zuständigen Referatsleiter des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums zum Lokaltermin nach Lienzingen lotste. Als beim Rundgang auch noch zufällig Pfarrer Karl Frank - inzwischen in Waiblingen-Hohenacker - dazu stieß, hatte das Projekt gar geistlichen Segen. Nehmen wir aber durchaus an, dass für den Erfolg beim dritten Antrag 2007 letztlich die Daten und Fakten entscheidend waren und die Anhäufung von Kulturdenkmalen im Ortskern. Aber das mit des Pfarrers Beistand… wer weiß?

Für mich stecken in dem Viertel manche Geschichten und manches Erlebnis, tauchen hier und dort  Erinnerungen  auf aus meinen Kinder- und Jugendjahren. Die Hintere Gasse, das war

Aus dem Fundus des Landesarchivs Baden-Württemberg: Herzenbühlstraße 3 anno 1930.

meine, unsere Welt. Irgendwie war sie auch meist vorne dran: Als kurz vor der 2000er-Jahrtausendwende die Stadtwerke erstmals Gasleitungen in Lienzingen verlegen ließen, fiel quasi als Nebenprodukt eine neue Fahrbahndecke auf der gesamten Breite ab. Mit sanftem Nachdruck, unter Mithilfe von OB Klaus Schönfeld, reichte es im Gemeinderat zur Mehrheit für einen vollwertigen Ausbau. Ursprünglich geplant war dies von der Kommune nicht. Die Stadtwerke sollten aufgraben, Rohre reinlegen, zumachen, mit Asphalt den Fahrbahnteil wieder schließen. Das wäre es dann gewesen.

Von einem Bürger gestiftet, fand der Pumpenschlegel Platz in der Herzenbühlstraße

Doch auf die letzte Minute brachte die Stadt das Geld für eine All-Inclusive-Lösung.

Nicht nur, dass sie vor Monaten zu den ersten Straßen gehörte, in denen die Stadtwerke Mühlacker GmbH dieses neumodische Zeug anboten, von dem wir in Gaiern-Neuwiesen bis jetzt nur träumen können: einen Glasfaseranschluss direkt ins Haus, mit 300 bis zu 1000 Megabit.

Aktuell zahlreiche Baustellen als Zeichen für Sanierungswillen, verbunden mit der weiteren Aufwertung als Wohnviertel. Liebevolle Details wie der von der Stadt montierte dunkelgrüne Pumpenschwengel, von einem Bürger des Stadtteils geschenkt, beim Anwesen Nummer 16.

Selbst in dem maximal zu einem Viertel fertigen Haus kommt Bewegung– eigentlich war es bisher nur eine gemauerte unverputzte Fassade, mehr nicht, zur Straße hin, gleich nach Nummer 18, einen Steinwurf von der scharfen Linkskurve entfernt.  Die Unvollendete. Mehr als 25 Jahre – wahrscheinlich deutlich länger sogar – rührte sich dort praktisch nichts, wurden nur Autos dahinter im offenen Hof abgestellt. Jetzt tut sich endlich was!

Der Eingangsbereich von Herzenbühlstraße 3 - die Gefache sind frei (Februar 2022)

Überhaupt: Während die Stadt das nur gut 120 Jahre alte Gebäude Friedenstraße 12 abbrechen ließ, leider ohne sich noch länger Gedanken zu machen wenigstens über den Fassadenerhalt, engagieren sich an anderen Stellen des Etterdorfs Privatleute und investieren. Indessen: Friedenstraße 12 galt zwar als erhaltenswert, hatte jedoch nicht den schützenden Status eines Kulturdenkmals nach dem Gesetz.

Nun exemplarisch drei Baustellen an der Herzenbühlstraße, die ins Auge stechen, für Fortschritt stehen. Alle drei Sanierungsobjekte sind Kulturdenkmale, von denen Lienzingen 85 hat – im Enzkreis stehen mit 110 nur in Knittlingen mehr. Das Etterdorf und seine Gestaltungssatzung – mir waren und sind sie ein Anliegen. Wie vor Jahren die Renovierung der Kirchengaden.

Weiter auf Sanierungskurs

Hausnummer 27: Die aufs Jahr 1700 -/+15 g datierte ehemalige Zehntscheuer, somit älteste Scheune des historischen Ortskerns von Lienzingen, steht zwischen Hexengässle und Herzenbühlstraße. Mit den neuen Eigentümern der Zehntscheuer

... und so war es noch 2020.

schloss die Stadt 2020 eine Modernisierungsvereinbarung im Rahmen der Ortskernsanierung.  Im Ortsbuch von 1970 schrieb Friedrich Wißmann, die Zehntscheuer an der Herzenbühlgasse bestand aus Tenne, Bam und Fruchtkasten. sowie einem gewölbten Keller (und der ist immer noch vorhanden).  Sie gehörte dem Staat, der sie wegen der Zehntablösung für entbehrlich hielt. Das Bezirksbauamt in Heilbronn trug sie um 400 Gulden dann der Gemeinde Lienzingen zum Kauf an; sie war der einzige Interessent. Die Scheune selbst war gering, dazuhin seit Jahren gesprießt. Ihre Verpachtung hatte bisher jährlich 12 Gulden erbracht. Die Gemeinde bot für die Zehntscheuer 300 Gulden. Die Finanzkammer war damit nicht zufrieden.

Sie genehmigte weder den Verkauf noch die Vermietung der Scheune. Das Kameralamt wurde beauftragt. sie der Gemeinde erneut um 400 Gulden (etwa 5800 Euro) zum Verkauf anzubieten. Im Laufe des Jahres 1854 übernahm dann die Gemeinde die Zehntscheune doch um diese Summe. Sie verkaufte sie 1873 an Friedrich Straub für umgerechnet 1350 Gulden, für wahr ein gutes Geschäft (Wißmann, S. 24 f).

Nummer 18: das drittälteste Fachwerkhaus des Dorfes – ein Ständerbau im Kern aus 1463/64. Ein gutes Beispiel für die Typologie der historischen Bebauung des 16. Jahrhunderts in Lienzingen, heißt es dazu im Band 1 von Fachwerk lesen lernen, 2021 im Verlagshaus J.S. Klotz erschienen. Der gesamte Straßenzug der Herzenbühlstraße ist geprägt von ein- und zweigeschossigen Scheunen zum ehemaligen Dorfetter hin orientiert (S. 81). Auch Kulturdenkmal

Nummer 3: Wohnhaus, im Kern von 1607/08, vor dem Verfall gerettet durch eine Familie aus Bretten, mit viel Empathie für solche Zeugnisse der Baukunst und die Erfahrungen hat in der Sanierung von Fachwerkhäusern. Die um 1700 errichtete Scheune konnte allerdings nicht mehr gerettet werden. Auch diese ein Kulturdenkmal.

Nochmals die ehemalige Zehntscheuer von Lienzingen: 2019 vom Hexengässle aus. Eindeutig ein Sanierungsfall, zumal im Bestand gefährdet

Ein paar Angaben zur Konstruktion des mächtigen Bauwerks:

Der auf einem massiven Sockel errichtete Fachwerkbau weist einen zweistöckigen Unterbau auf. Darauf ist ein zur Straße giebelständig ausgerichtetes Satteldach abgezimmert. Während der Oberstock zweiseitig auskragt, beschränken sich die Überstände der Dachebenen auf den straßenseitigen Giebel. Die Auskragungen selbst erfolgen über Stichbalken, wobei aus den Ständern gearbeitete Knaggen die Überstände der vorstehenden Rähmhölzer sichern. Im Giebeldreieck ist an einem Brüstungsstiel die Jahreszahl 168x (?) ablesbar. Die Winkelsicherung des Traggerüstes erfolgt über verzapfte Streben.

Nummer 4: Wohnhaus aus 1725 +/-25 G(?). Umbau- und Erweiterungspläne werden verwirklicht. Zusätzlicher Wohnraum entsteht nach aktuellem Standard im Kulturdenkmal.

Nummer 5  fällt aus dem Rahmen: in den 1970er Jahren erbaut. Der Vorgängerbau (Baujahr unbekannt) eineinhalbstockig, teilweise unterkellert, von den zwei Wohnungen war zuletzt nur die rückwärtige bewohnt. Feuchte Wand im Schlafzimmer, Holz-Toilette (ein Plumpsklo) angebaut an die Scheune, im Schatten von Fliederbäumen. Ärmliche Wohnverhältnisse. So meine Schilderung aus der Erinnerung heraus. Meine Mutter und ich waren die letzten Bewohner des Hauses.

Knittlinger Straße 8: Wohnhaus von 1729. Das Fachwerkhaus Ecke Herzenbühlstraße 3/Knittlinger Straße.

Lienzinger Dorf-Szenen in meinen Kinder- und Jugendjahren. Zum Beispiel als Erntehelfer (historische Aufnahmen von Gerhard Schwab, Fotos aus der jüngsten Zeit: Günter Bächle, wenn nichts anderes vermerkt)

Ähnlich eines Barcodes: 32 von insgesamt 135 Gebäuden im Ortskern, deren Alter der Bauforscher und Mittelalterarchäologe Tilman Marstaller wissenschaftlich untersuchte, stehen an der Herzenbühlstraße. Marstaller beherrscht die Dendrochonologie (Baum/Zeit/Lehre), die Holzdatierung durch Jahresringe. Die Ergebnisse der Untersuchung, finanziert aus Mitteln des Landessanierungsprogrammes, legte Marstaller 2010 vor.

Ein Gang allein durch die Lienzinger Herzenbühlstraße lässt das Herz höherschlagen. Nicht nur, weil zweimal Herz in diesem Satz stecken, passt dieses Bild. Herzenbühlgasse, Hintere Gasse - alles meint das Gleiche. Für mich war es als Kind das Revier, sozusagen der Open-Air-Spielplatz. Häufig zu Viert  und mehr sorgten wir selbst für Unterhaltung. Kein kommunales Spielgelände lud uns ein, das Dorf und seine Umgebung lieferte genügend Möglichkeiten fürs Spielen, Raufen und zum Aushecken von Streichen. Gerhard, Roland, Rolf, Günter – quasi die Aktivposten. Das Landleben bot viel – bis zum Mithelfen beim Heuen. Jenseits des Scherbentalbachs bewirtschafteten Tante Elsa und Onkel Artur Benzenhöfer ihren Bauernhof so wie die Familie von Gerhard Kontzi in der heutigen Knittlinger Straße.

Der kleine Günter B. und die große Tafel beim Umzug 1958
Fast-Nachbarn in der Herzenbühlgasse: Wilhelm Speidel und Wilhelm Braun 1958

Die Herzenbühlstraße – unser Mittel-, Treff- und Anlaufpunkt. Im Stall der Straubs versuchte ich mich erstmals im Melken und wundere mich heute noch, dass die Kuh stillhielt, ihr Schwanz mir kein einziges Mal übers Gesicht strich. Ich erinnere mich an Tauben in ihrem Verschlag unterm Dach des Bauernhofes, zu denen ich mit der nur unwesentlich älteren, burschikosen, zupackenden und unerschrockenen Leni auf der Leiter hochkletterte und das arme Federvieh vor Schreck hochflattern ließ. Entfernt fällt mir die Szene ein, in der ich - ganz neugierig - auf allen Vieren in den Verschlag hineinrutschte, worauf Leni blitzschnell die kleine Türe zudrückte und von außen verschloss. Ich saß in der Falle, versuchte von innen mich mit einem kleinen rostigen Stück Metall zu befreien, indem ich durch die Spalte zwischen Tür und Holzwand rüttelte, mich dabei an der rechten Hand verletzte und blutete. Spuren unterhalb des rechten Daumens lassen noch heute erraten, wenn auch schwach, vom Freiheitsdrang im Taubenstall. Leni öffnete nach meinem Wehklagen doch rasch wieder die Tür – aus Schrecken oder aus Großmut blieb ungeklärt.

Das Haus, das über die Fassade nie hinauskam. So war es schon in meiner Jugend. Jetzt wird doch noch ein Haus daraus. (02/2022)

Verschrocken waren wir alle nicht, die Kinder von der Hinteren Gass. Meist trug ich eine kleine Schaufel mit mir - als ich einmal ganz zornig im Streit mi Roland darüber, wem von uns ein gemeinschaftlich geborgener toter Fisch aus dem Scherbentalbach gehörte, zur Klärung mein Schäufelchen einsetzte (zu unser beides Glück haarscharf an meinem Gegenüber vorbei) litt die Freundschaft doch für einige Zeit.

Um Streiche waren wir jedenfalls nicht verlegen. Zum Beispiel das Konzert mit Schlagzeug der ungewöhnlichen Ar. Fricks, denen das Gemischtwarengeschäft an der Ecke (heute) Knittlinger/Friedenstraße und ein quasi öffentlicher Telefonapparat gehörten, verkauften Sauerkraut offen. Einmal, als einige der

Zu brav, um Streiche aushecken zu können? Ich und das Weiße.

großen Dosen leer waren, holten wir sie, drehten sie um mit der Öffnung zur Erde hin, banden eine Schnur dran, besorgten bei uns im Schuppen Herzenbühlgasse 25 Holzscheide und begannen unsere Straßenmusik. Spassmacher stießen aber auf Spaßverderber und die nötigten uns zur vorzeitigen Beendigung unseres so gut gemeinten Konzerts. Ein zweiter Auftritt musste deshalb zwangsweise unterbleiben.

Ja und dann passierte ausgerechnet an einem heißen August-Tag in der heutigen Knittlinger Straße eine anrüchige Sache: Ein Mitarbeiter von Bauer Eberhard Pfullinger rollte mit dem Jauchewagen die leicht abfallende Straße herunter, zwei Rösser vorneweg, daneben ein loses angebundenes Fohlen, das meine Neugierde auslöste. Als etwa auf Höhe des Hauses Lutz das Gespann der Gäule vorüber war, eilte ich zu dem Wagenende, griff mit beiden Händen das Gestänge am Jauchefass, hielt mich fest, sprang und hüpfte einige Meter weit immer wieder hoch. Durch das Ruckeln löste  sich der Verschluss, plötzlich spürte ich Feuchtes auf meinem Kopf, zuerst eher tröpfelnd, bis das Nass in einem heftigen Schwall auf mich niederging. Die so urplötzliche Jauche-Dusche löste heftige Reaktionen aus. Frauen schauten blitzschnell aus den Fenstern, um die Herkunft des unerwarteten Gestankes zu ermitteln und warfen eilig die Fenster ins Schloss. 

Wir wohnten damals noch in dem Fachwerkhaus unterhalb des Gasthauses zum Lamm. Streng riechend verdrückte ich mich, getraute mich erst ein oder zwei Stunden später heim. Meine Mutter steckte mich lachend in den großen mobilen Waschzuber, schrubbte mich ab - aber am Abend passierte das, was so selten nicht war: Mein Vater versohlte mir den Hintern. Unser Verhältnis war nie herzlich. Er ein eher verschlossener und sturer Schwarzwälder, der meist nur mit sich selbst redete, dessen Mitteilungsfreudigkeit auch Frau und Sohn gegenüber eher spärlich war. Am Arm tätowiert wie sein im Ersten Weltkrieg gefallender Bruder Wilhelm - den er verehrte, weshalb bei mir als zweiter Vorname Wilhelm steht - bei Spaziergängen immer schneller als die anderen.  Laufende 1,56 Meter. 

Das Fachwerkhaus unterhalb des Gasthauses Lamm im Hintergrund beim Festzug: Zwischen 1952 und 1957 wohnte unsere Familie hier zu Miete.

Ein verschlossener Mensch, der mit 52 Jahren erstmals Vater wurde. Bei Bier, Brot und dem Verspeisen von rohen Zwiebeln taute er auf - aber wehe, wenn er mich gerade auf dem Kieker hatte. Da sagte ich lieber nichts und machte einen Bogen um ihn. Aber so quer wie er gelegentlich im Leben stand, so fleißig war er. Mit 57 lernte er noch das Radfahren. In aller Frühe machte er sich auf den Weg zur Arbeit bei der Metall-Firma Gotthilf Walter in Erlenbach – entweder per pedes oder zu Fuß hin und abends retour. Er war bei seinen Kollegen wohl gelitten. Machte nicht blau, war selten krank.

Doch der Lohn eines Hilfsarbeiters reichte selbst für eine dreiköpfige Familie kaum aus, so dass meine Mutter die Mark mehrfach umdrehen musste. Als sie aber eines Tages auf Raten ihre allererste Waschmaschine bestellte, gab es Ehekrach – meine Mutter Emilie setzte sich aber durch! Einen Fernseher kauften sie relativ spät, denn ich hatte meinen Platz vor der Mattscheibe gefunden, bei meinem Freund Wolfgang, heute Ortschaftsrat in Huchenfeld, und seinen Eltern im Hexengässle.- aber nur bis zu 20-Uhr-Tagesschau. 

Ich bekenne: Ich war ein Mama-Kendle.

Die Dorfprominenz in der Kutsche beim Heimatfest 1958: Von links Bürgermeister Richard Allmendinger, sein Vorgänger Jakob Straub (mit Zigarre) und Gemeinderat Victor Geiger (außen)

An einem Januartag des Jahres 1964 kam mein Vater Johann von einer mehrtägigen Behandlung im Mühlacker Krankenhaus an der Erlenbachstraße zurück. Beide fremdelten wir. Jahrelang behandelten ihn die Ärzte mit Heiß-kalt-Bädern wegen Magengeschwüren. Als sie ihn dann doch operieren wollten, war es zu spät - der Krebs hatte schon den Siegeszug angetreten. Am Sonntag, den 5. April 1964, morgens um 8 begannen die letzten Stunden des Arbeiters und Familienvaters Johann Bächle. Er röchelte ununterbrochen, wir legten ihn im Wohnzimmer auf Stroh, meine Mutter schickte mich mehrmals zu Fricks, um dem Hausarzt, Dr. von Langsdorff, anzurufen. Der kam, aber es war klar, dass meinem Vater bald die letzte Stunde schlagen wird. Nachmittags um vier machte er seinen letzten Schnaufer, gut einen Monat vor der Rente mit 65. Ich war noch keine 14, aber einen halben Kopf größer als er.

Wenigstens endete damit auch eines - das Schlachten von Kaninchen, die er großzog. Im Stall der tödliche Schlag ins Genick, zog ihnen das Fell über . . .  Es war meine Sache nicht.

Ein guter und gläubiger Katholik war er, Johann Bächle aus Neustadt-Titisee. Als er so um 1960 einmal zur Beichte wollte, aber von einem Geistlichen zurückgewiesen wurde, weil er eine Evangelische geheiratet hatte und sei Sohn auch evangelisch getauft war, setzte ihm das doch heftiger zu als er zunächst dachte.

 

Gestatten, Flaschnermeister Reinhold Hermle - gefragt im  Flecken. Wir Jungen hatten Respekt vor ihm. Er konnte auch laut werden, wenn wir nicht folgten.  (Foto: Gerhard Schwab)
Meine Patentante Paula Benzenhöfer heiratete 1957 auf dem Hof ihrer Eltern am Scherbentalweg. Die Hochzeit brachte mir meinen ersten Anzug ein - kaum sieben Jahre jung.
Im Jahr 1955: Pfarrer und Hobby-Fotograf Gerhard Schwab (Foto: Volker Ferschel)

Die Hintere Gasse ist denn auch ein Stück Kinder- und Jugendgeschichte. In ärmlichen, aber doch weitgehend fröhlichen Verhältnissen aufgewachsen. Als mein Vater gestorben war, mussten meine Mutter und ich die Wochen, bis der Briefträger erstmals die Witwen- und Waisenrente in bar in die Herzenbühlgasse 13 brachte, eine karge Zeit überwinden – mit Kartoffeln in verschiedenen Zubereitungsarten. Das Essen durfte nicht viel kosten. Angebratene Leberspätzle erfüllten diese Bedingung. Von der Metzgerei Ehmendörfer – immer gut, aber zu oft. Seitdem rühre ich keine mehr an.  Eine schwierige Zeit für die Witwe und den Waisen. Immerhin traute ich mich zu unserem Pfarrer Schwab und bat ihn, uns zu helfen. Doch er hatte nur eine barsche Ab- und Zurechtweisung für mich übrig, nichts – so mein Empfinden - von christlicher Nächstenliebe.  Gut drei Jahre später, zum ersten möglichen Termin, unterschrieb ich meinen Austritt aus der evangelischen Kirche. Zehn Jahre später kehrte ich zurück in die Kirche bei seinem Nachfolger Dr. Ernst Worbs. Indessen erwarb sich der Ortsgeistliche auf einem Anderen Feld Verdienste für unser Dorf: Er rauchte nur gewaltig, sondern fotografierte mit Leidenschaft das Lienzinger Leben, was sich auch in dieser Mischung aus Themen der Gegenwart und der Vergangenheit niederschlägt.  Meine Erkenntnis aus diesen  Erfahrungen – niemals des Pfarrers wegen der Kirche verlassen. Denn Kirche ist mehr!

Nochmals Heimatfest (entweder das von 1958 oder jenes ein Jahr später): Zweiter von rechts als Jäger. Jedenfalls eine festlesreiche Zeit

Das Quartier Herzenbühlstraße ist für mich mehr – eine einzige Erlebnisgeschichte. Meist heiter und lustig. Selbst beim Sturz in den Scherbentalbach hinter dem Hof Roos im Sonntagsanzügle, weil ich auf einem über den Bach gelegten Brett das Gleichgewicht verlor. Ober beim vergeblichen Versuch, aus dem Teich der einstigen Brauerei Schneider in den Ziegelwiesen (heute Fußballplatz) in Einmachgläsern Kaulquappen zu fangen, in der (vergeblichen) Hoffnung, dass sie auf dem heimischen Fensterbrett zu Fröschen mutieren. Auch der Versuch, auf dem gefrorenen See des Winters Schlittschuh zu laufen, scheiterte. Dafür gab es bei meinem Onkel Artur auf dem Bauernhof immer wieder schöne Familienfeste, weil dessen Töchter nach und nach heirateten. 1957 machte meine Patentante Paula den Auftakt mit Christian Weißert aus Zaisersweiher. Mir brachte das meinen ersten Anzug mit Fliege ein.

In die Kandidatenprospekte der CDU für meine ersten Kommunalwahlen schrieb ich – bewusst als CDU-Mitglied - in den ersten Jahren immer, um die soziale Herkunft zu unterstreichen: Arbeitersohn. Ich hätte es auch anders formulieren können: Ich bin der aus der Hinteren Gass!

Der hintere Teil der Herzenbühlstraße: Prächtiges Fachwerk und eine ruhige Gasse
Historischer Ortsrundweg: Drei Stationen in der Herzenbühlstraße.

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