Drei Händler und 50 Landwirte: Der Lienzinger Milchvertrag von 1929 - Geschichten rund ums Milchhäusle

Amtsbote Wilhelm Scheck und sein Kuh-Gespann. (Foto: Gerhard Schwab)

Immer die gleiche Zeremonie: Die Kunden reichten das Traggefäß über die Verkaufstheke, eine der Frauen enteilte und füllte es mit dem weißen nahrhaften Produkt der knapp 400 Lienzinger Kühe, kassierte. Der große, gekachelte Raum roch permanent nach Frische, temperaturmäßig kam es einem aber auch sehr frisch vor. Fließend kaltes Wasser, mit dem immer etwas gereinigt wurde, trug zu diesem subjektiven Gefühl bei. Das Milchhäusle in Lienzingen.

Die Zahl der Anlieferer blieb bis Anfang der 1960er Jahre weitgehend stabil mit knapp 80, die jährlich um die 393.000 Liter Milch anlieferten – also mehr als tausend Liter am Tag (Schmollinger, Reiner: Die Milchverwertungsgenossenschaft und das Milchhäusle, in: Dussel, Konrad; Ortsbuch Lienzingen, Verlag Regionalkultur, 2016, S. 185).


Lienzinger Geschichte(n) - heute ein weiterer Beitrag zu meiner Internetserie. Milchhäusle, Milchkannen, Milchbauern und der Mühlacker Boykott gegen Lienzinger Milch. In Akten und Ratsprotokollen der einst selbstständigen Gemeinde Lienzingen gestöbert.

Milchkännle und Milchhäusle gehörten zusammen, bilden noch in der Erinnerung von mehr als einer Generation Lienzinger eine feste Einheit. Auch meine Eltern schickten mich in den frühen Abendstunden mit dem Kännchen los, in dem Gebäude neben der Kelter zwei oder drei Liter frischer Milch zu erstehen. Wir wohnten seinerzeit in dem Fachwerkhaus der Familie Kontzi gleich unterhalb des Gasthauses zum Lamm (heute Knittlinger Straße 8-). Lediglich 200 bis 300 Meter bis zur Milchsammelstelle Lienzingen, aber trotz kurzer Wegstrecke eine Gelegenheit zum Trödeln. Die Gefahr, mit Inhaltsverlust heimzukommen, bestand maximal durch heftiges Schwingen mit der Milchkanne, die zum Glück von einem festsitzenden Deckel verschlossen war, der meist hielt. Doch es konnte passieren … Eine Gefahr drohte bei mir nicht: ein Schluck  (oder mehr) zu nehmen. Noch heute bin ich allergisch gegen Milch.

Lienzingen: Rechts Kelter und angebaute Turnhalle (1926-2015) links Milchhäusle, Zaisersweiherstrasse (Luftbild 1969 von ErichTschoepe, Bremerhaven, im Fundus STAM)

Mit meinen fünf oder acht Lebensjahren bewunderte ich die „älteren“ Dorfjugendlichen, die selbstbewusst und fröhlich auf dem Geländer an der Milchhäusle-Treppe saßen wie Vögel auf den Stromleitungen. Sie zwitscherten, brachten den neuesten Klatsch und Tratsch mit oder kommentierten Passanten. Es war während der Öffnungszeiten einer der beiden Treffpunkte der Dorfjugend, der andere lag ganz in der Nähe am Adler-Eck (damals Gasthaus zum Adler und Metzgerei, heute Bäckerei Schmid).

Lienzinger Milch für Mühlacker: Der Wagen der Milchhändlerin  Friederike Lehr (Foto: Smlg. Lehr)

Doch nur ein Teil der Produktion vermarktete die 1933 gegründete Milchverwertungsgenossenschaft Lienzingen vor Ort, den anderen Teil holten zunächst die drei örtlichen Milchhändler, später eine Molkerei ab. Anfang März 1939 legte die Genossenschaft dem für die Genehmigung zuständigen Landratsamt Vaihingen die Pläne für den Bau einer Milchsammelstelle auf dem von der Gemeinde gekauften Grundstück mit der Parzellennummer 3152/1 gleich neben der Kelter an der Zaisersweiherstraße vor. Die Kosten kalkulierte der planende Architekt F. Aeckerle aus Maulbronn auf 8000 Reichsmark, für die fast fünf Monate später erteilte Baugenehmigung kassierte die Kreisverwaltung 38 Reichsmark an Gebühren.

In gefälliger Art aus Holz - empfehlen Denkmalschützer

Eine Baugenehmigung mit klaren Auflagen, denn der Kreisbaumeister – auch ein Aeckerle - holte Stellungnahmen sowohl von der Oberamtstierarztstelle als auch vom Landesdenkmalamt ein. Letzteres stützte sich auf eine Verordnung über Baugestaltung vom 16. November 1936 und verlangte, den Bau gefällig zu gestalten. Die beiden Giebel seien im Fachwerk entsprechend dem geänderten Plan auszuführen. Für die Gesimse des Daches seien an den Giebelseiten Zahnlatten anzubringen. Beim Dacheindecken seien keine hellroten oder gar schwarze Ziegel zu verwenden, sondern etwas abgetönte, sogenannte alt rote Ziegel. Zudem schrieben die Denkmalschützer Sprossenfenster vor. Das Geländer an der Aufgangstreppe müsse auf eine gefällige Art in Holz konstruiert werden. Die Farbe des äußeren Verputzes sei nicht zu hell zu wählen, sondern mehr in Naturton zu halten.

Interessant die Stellungnahme des Württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege In Stuttgart vom 14. März 1939 zu dem Vorhaben. Sie floss als Auflagen in die Baugenehmigung ein.  Der Sachverständige der Behörde meinte, dass auch eine Milchsammelstellen eine äußere Gestaltung erhalten sollte, die besser in das Ortsbild hineinpasse, auch dann, wenn das Gebäude nicht unmittelbar an einer Hauptstraße stehe.  Der Kreisbaumeister hatte in seinem Brief vom 8. März 1939 an die Stuttgarter Behörde seine Bitte um Stellungnahme mit dem Hinweis verbunden, das Bauwesen solle in der Nähe von ins Denkmalverzeichnis aufgenommenen Bauten erstellt werden.

Immerhin verbaute sich Lienzingen den Blick auf die Westfassade der Kelter mit ihrem eindrucksvollen Walmdach. Der Kelter-Bau wurde 1789 unterhalb der Weinberge errichtet und 1897 an den jetzigen Standort im Dorf versetzt. Beträchtliche Teile sind aus Holz, weshalb der Denkmalschutz sich so stark machte, bei dem neuen, vorgelagerten Gebäude mehr Holz zu verwenden. Freilich: Holz gehörte 1939 zu den rationierten Baumaterialien. Doch die Zuteilung funktionierte.

Inzwischen abgebrochen: das Milchhäule neben der Kelter. (Foto: Marlis Schäfer-Gollnow, STAM)

Der Vorsitzende des Milch- und Fettwirtschaftsverbandes Württemberg schickte am 23. Juni 1939 der Milchverwertungsgenossenschaft Lienzingen einen Brief mit gewichtigem Inhalt: Drei Einkaufsscheine für Nadelschnittholz auf insgesamt 15 Kubikmeter Bauholz für das geplante Gebäude, versehen mit dem Ersuchen, die Scheine rechtzeitig in Anspruch zu nehmen, da sie am 30. September desselben Jahres verfallen würden. Die Genossenschaft ließ sich dies nicht zweimal schreiben, schon gar nicht jener, der im Bauantrag als bauausführender Handwerker benannt wurde – der örtliche Zimmermann Karl Kälber: Im Mai 1943 bescheinigte Kreisbaumeister Aeckerle die Fertigstellung des Milchhäusles und reihte seinen Bescheid darüber an den Vaihinger Landrat in die Akten ein, die heutzutage sowohl beim Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL FL 20--18 II Bü 247) als auch im Stadtarchiv Mühlacker (STAM, Li A 226)) zu finden sind.    

Das Zauberwort hieß: Genossenschaft - 1933 gegründet

Lienzingen war seinerzeit ein Bauerndorf mit etwa 720 Einwohnern. Für zahlreiche Landwirte bedeutete der Milchverkauf eine wichtige Einnahmequelle, die stabilisiert werden musste. Der Staat förderte schon in der Weimarer Republik nicht nur den Weinbau, sondern auch andere Standbeine der Agrarbranche. Das Zauberwort hieß: Genossenschaft.  So gründeten 76 Bauern am 23. September 1933 die Milchverwertungsgenossenschaft Lienzingen eGmbH und wählten zum Vorstand Eugen Geißler, Karl Schneider und Gotthilf Brüstle, zu Aufsichtsräten August Rößler, Wilhelm Scheck, Rudolf Rommel, Ernst Roos und Fritz Häcker. Die Zahl der Anlieferer blieb über Jahre weitgehend stabil. 1960 wies die Genossenschaft Einnahmen von 146.000 Mark in ihrem Geschäftsbericht aus.

Lageplan aus dem Bauantrag von 1939

Doch der strukturelle Wandel des Ortes wirkte sich auch auf die angelieferten Milchmengen aus. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe schrumpfte von 1950 bis 1961 um ein Drittel auf rund 100. Die Konsequenz des Mengen-Abschwunges: 1971 stellte die Genossenschaft ihren Geschäftsbetrieb ein, übertrug alles auf die Milchversorgung Pforzheim, zwei Jahre später ging die Milchverwertung Lienzingen in der Milchverwertungsgenossenschaft Nördlicher Schwarzwald auf (Quelle: Reiner Schmollinger in Ortsbuch Lienzingen, 2016, S. 185).  Dass die Entscheidung richtig war, lässt sich einer Statistik der Gemeinde vom 28. Juni 1975 für das Tierzuchtamt Heidelberg entnehmen: Es gab nur noch 10 Landwirte mit 105 Kühen.

Das Milchhäusle diente zuletzt als ausschließliche Milchannahmestelle für die Landwirte.  Die Kommune Lienzingen kaufte die Immobilie am 29. Oktober 1973 für 20.000 Mark, wobei sie sich verpflichtete, der Milchversorgung Pforzheim, bei der die Lienzinger Bauern nun einzeln Mitglieder waren, einen Raum für eine Milch-Kühlanlage zu vermieten. Die Kündigungsfrist: zwei Monte auf Monatsende. Damals erfüllten noch nicht alle Landwirte die Voraussetzungen dafür, dass die Milch direkt am Hof abgeholt werden konnte, so dass zunächst die Sammelstelle bei der Kelter unterhalten werden musste (Gemeinderatsantwort Stadtverwaltung Mühlacker Nr. 83/1983 zur Anfrage StR Bächle).

Später stellte die Diakoniestation Mühlacker einige Gerätschaften und mobile Hilfsmittel wie fahrbare Krankenbetten unter, die sie an Familien auslieh.  Die Stadt Mühlacker ließ das Gebäude abbrechen, nachdem der Standort 1992/93 als möglicher Bauplatz für ein Feuerwehrgerätehaus im Gemeinderat zuerst gelobt, dann aber aus finanziellen Gründen verworfen wurde.

Lienzingen, seine Bauern, die Vorschriften und die Milch. Ein interessantes Gemengengelage.

Milch und Milcherzeugnisse 1932 bis 1957 seht handschriftlich auf einem der Deckblätter der Akten aus dem Lienzinger Rathaus, die im Stadtarchiv Mühlacker aufbewahrt werden. Doch auch in den Ratsprotokollen der selbständigen Gemeinde Lienzingen findet sich ein überraschender Eintrag. Am 14. August 1959 unter Tagesordnungspunkt 5 heißt es, die Milchverwertungsgenossenschaft Lienzingen eGmbH beantrage, ihr den Handel mit Milch und Milcherzeugnissen zu erlauben – was sie aber doch seit Jahren tat. Da die Voraussetzungen nach dem Prüfungsergebnis vorlägen, schlug Bürgermeister Richard Allmendinger vor, dem Antrag zu entsprechen, was auch erfolgte. Im Beschluss wird der Begriff Milcherzeugnisse in der Klammer erklärt mit Butter (STAM, Lie B 324, S. 283). Hintergrund des Antrages der Genossenschaft: eine Änderung in den staatlichen Vorschriften. Das Land Baden-Württemberg korrigierte die Württembergische Vollzugsverordnung zum Milchgesetz von 1931 und verlangte auch von den Molkerei-, Milchverwertungs- und ähnlichen Genossenschaften ein so genanntes Erlaubnisverfahren, stellte sie somit gleich den Milchhandelsgeschäften.

Bauantrag von 1939: Die Planung des Maulbronner Architekten Fr. Aeckerle (aus dem Fundus von Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Mühlacker)

Später wurden daraufhin die Vorschriften für das eingesetzte Personal verschärft und Sachkundenachweise verlangt, auf die 1957 noch verzichtet wurde. Weitere Auflagen:  Abnahmeraum der Milchsammelstelle und Abgaberaum von Milch und Milcherzeugnissen mussten getrennt sein, in beiden musste heißes Wasser vorhanden sein sowie generell Möglichkeiten, um Gefäße trockenen zu können. Wiederum Käse sei so zu lagern, dass die Milch durch seinen Geruch nicht nachteilig beeinflusst werde und zudem dürften täglich maximal hundert Liter Milch verkauft werden, steht im Schreiben von Landrat Friedrich Kuhnle.

Die Baugenehmigung vom Landratsamt Vaihingen 1939

Im Interesse der Verbraucher wuchsen die Anforderungen auch an kleinere Milchsammelstellen.  So ordnete das Regierungspräsidium Nordwürttemberg im April 1957 an, Milch und Milcherzeugnisse in verkaufsfertigen Packungen nicht im gleichen Geschäftsraum wie in Kühltruhen aufbewahrte Fische auszugeben -   eine Gefahr, die in Lienzingen freilich nicht bestand.

Regelmäßig nahmen Mitarbeiter der Chemischen Landesuntersuchungsanstalt In Stuttgart die Anlagen unter die Lupe. Aus der Natur der Sache heraus waren die Punkte Sauberkeit und Hygiene beliebt bei den Prüfern, da schauten sie besonders genau hin. Im Bericht an das Bürgermeisteramt Lienzingen, Aktenzeichen V 8270,1, vom 4. März 1955 bemängeln sie, die Kannentrockengestelle seien defekt, Türen und Fenster, das Schreibpult sowie die Gestelle für Kühler und Messbehälter seien neu zu streichen. Eine weitere Vorgabe: jährlich Decken und Wände neu zu tünchen.

Ein Beamter des Landratsamts Vaihingen kontrollierte im September 1954 die Entnahme von Sammelmilch. Seine Auflagen fielen ähnlich aus:  Decken und Wände einmal jährlich zu tünchen sowie Türen, Schreibpult, Verkaufstisch und die Ständer für Milchkühler und den Sammelbottich ebenfalls neu zu streichen. Um die Ausgabe einer ordnungsmäßigen gut durchmischten Milch zu gewährleisten, sei ein Metallrührstock anzuschaffen und zu verwenden. Schließlich verlangte er, das Schild Rauchen verboten anzubringen. Am 14. Januar 1955 meldete der Bürgermeister dem Landkreis, die Aufgaben seien erledigt oder die Erledigung stehe kurz bevor.  Im Oktober 1955 stellte das Landratsamt Vaihingen nach einer weiteren Kontrolle unter den Aktenzeichen V 8270,1 der Milchsammelstelle Lienzingen ein gutes Zeugnis aus: Alles sauber!

Gewohntes Dorfbild in meinen Kinderjahren, im Hintergrund des Pfarrhaus. (Foto: Gerhard Schwab)

Die Genossenschaft hatte aus ihren Anlaufproblemen gelernt. Denn das Ergebnis einer Überwachung der Milchsammelstelle im Oktober 1942 durch Regierungsveterinärrat Haag aus Vaihingen fiel verheerend aus. Seine sechs Beanstandungen glichen einer verbalen Watsch‘n für die Genossenschaft.  Er bemängelte verunreinigte Teile der Wand, daran anhaftenden Schmutz, nicht gestrichene Holzteile im Inneren, vermisste Geräte zur Bestimmung der Säuregrade oder des Frischezustands der Milch. Die Aufbewahrung der Untersuchungsgeräte sei mangelhaft, sie gehörten in ein besonderes, gegen Feuchtigkeit geschütztes Schränkchen. Haag vermisste das Milchuntersuchungsbuch. Die vorgeschriebene regelmäßige Untersuchung der auszugebenden Frischmilch auf den Frischezustand sei bis jetzt nicht vorgenommen worden. Zudem fehle in der Sammelstelle ein Schild mit dem Hinweis, die ausgegebene Milch sei nicht erhitzt und müsse deshalb sofort abgekocht werden. Die Mängel müssten bis 1. Dezember 1942 beseitigt werden, forderte Bürgermeister Karl Brodbeck vom Vorstand der Milchverwertungsgenossenschaft Lienzingen, Eugen Geißler.

Anfang Februar 1942 räumte der Württembergische Innenminister in einem Schreiben an die Landräte ein, dass Material wie Kohle knapp sei, um die Milch in den Sammelstellen zu erhitzen. Deshalb sei es ratsam, sie vor dem menschlichen Genuss abzukochen. Je länger der Krieg dauerte, je größer die Probleme. Am 19. Mai 1944 schrieb Dr. Thierfelder als Amtsverweser des Landkreises Vaihingen den Herren Bürgermeistern des Landkreises. Anlass: Die Weisung des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft, in den folgenden Monaten alles zu unternehmen, um die letzten Milchreserven für unsere Fettversorgung freizumachen. Denn durch die Zurücknahme der Front im Osten seien gewisse Einbußen entstanden, die durch eine erhöhte Leistung der heimischen Landwirtschaft wieder ausgeglichen werden müssten. Der von ihm verordnete Mindestertrag pro Kuh und Tag zwinge zu entsprechenden organisatorischen Maßnahmen.

Die häufigen Schwachstellen: einige, aber nicht alle Anlieferer. So handelten sich Landwirte Anzeigen ein als sie verschmutzte Milchkannen zur Anlieferung benutzten. Anderer kippten die gerade gemolkene Milch für den Transport in die Sammelstelle in nicht mehr erlaubte Lackkannen, die eigentlich aus dem Verkehr gezogen worden waren. Im Frühjahr 1967 entdeckten die Kontrolleure des Landratsamtes geringe Mengen Schmutz in jeweils einen halben Liter fassenden Proben und schalteten die Chemische Untersuchungsanstalt Stuttgart ein.  Oberregierungschemierätin Dr. Schaible fand in den abgelieferten 42 Liter Milch sieben Liter Fremdwasser. Das habe die Qualität des Produkts vermindert. Der Volksmund bringt das auf den Punkt: Die Milch ist gestreckt worden. Bis die Fälle aufflogen, dürfte die Genossenschaft manche Mark für reines Wasser bezahlt haben. Die entdeckten Fälle gingen an die Kreispolizeibehörde, Strafanzeigen folgten. Alles Fälle zwischen 1952 und 1967. Angaben zu Strafen finden sich in den Akten nicht (STAM, Li A740a).

In einer amtlichen Bekanntmachung vom 6. Februar 1952 bezog sich der Bürgermeister auf das Gerücht, der Milchverkauf ab Stall oder Hof durch die Verbraucher nehme zu. Allmendinger stellte per Aushang am Rathaus klar: Der Verkauf ab Stall oder Hof sei verboten und auch aus hygienischen Gründen nicht ratsam. Bei künftigen Verstößen gegen das Wirtschaftsstrafgesetz werde das Amt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen einschreiten.

Ministerium beklagt: Weniger Milchablieferungen vor Kichweih

Ganz andere Sorgen plagten in der Nachkriegszeit das Landwirtschaftsministerium Württemberg-Baden, das in einem Erlass vom April 1947 beklagte, die Erzeuger würden ihrer Milchablieferung immer weniger nachkommen, und zwar dann, wenn bestimmte örtliche Feste wie Kirchweih und dergleichen bevorstünden. Das Ministerium habe die betreffenden Organe mit einer schärferen Überwachung der Milchablieferungen beauftragt und werde seinerseits bei Übertretungen entsprechenden Strafmaßnahmen ergreifen, was hiermit bekannt gegeben werde. Lienzingen 13.11. 1947 Bürgermeisteramt, angeschlagen am 13.11.1947.

Eine der drei Lienzinger Milchhändler/innen: Die Witwe Friederike Lehr

Was geschah mit der Milch, die die Lienzinger nicht selbst tranken oder verkochten? Die wurde täglich gen Pforzheim gekarrt. Der Trend bei den örtlichen Milchbauern ging schon in den 1930er Jahren in Richtung Westen wie nach 1970 wieder. Nachdem der Milchlieferungszusammenschluss Nördlicher Schwarzwald Gesetz geworden sei, regle dieser die Milchlieferungen, schrieb im Herbst 1932 das Oberamt Maulbronn dem Bürgermeisteramt Lienzingen. Vom 1. Januar 1935 an nahm die Milchversorgung Pforzheim GmbH ab, was Lienzingens Kühe an weißem rahmigem Stoff produzierten. Betroffen waren die Landwirte von einer Anordnung des Milchwirtschaftsverbandes Baden-Pfalz in Karlsruhe vom Januar 1935, wonach in Orten mit Molkerei, Milchsammelstelle oder Rahmstation, die über den Eigenbedarf hinaus gehende Milch von den Erzeugern restlos an diese abzuliefern sei. Nur noch in wenigen abgelegenen Ortschaften dürfe Landbutter durch Landwirte hergestellt und verkauft werden.

Das über den Eigenbedarf hinaus gehende flüssige Nahrungsmittel war schon 1929 ein Thema. Drei Milchhändler gab es im Dorf: Friedrich Kuhn, Karl Geiger und Friederike Lehr. Sie verhandelten bei einem Treffen im Rathaussaal am 5. März 1929 mit den örtlichen Milcherzeugern und einigten sich auf einen Vertrag. Darin verpflichteten sich die örtlichen Bauern, die überschüssige Milch an diese drei Händler abzugeben, und zwar nach ihrer freien Wahl. Im Gegenzug legte sich das Händlertrio darauf fest, die Menge restlos zu kaufen. Sie bezahlten 20 Pfennig pro Liter an die Erzeuger bei Ablieferung frei Sammelstelle. Der Betrag blieb garantiert, solange die Preisnotierungen der Stuttgarter Milchversorgung keine anderen Werte ergaben, ansonsten wurden die Sätze entsprechend angepasst. Den Vertrag vom 6. März 1929 unterschrieben die drei Milchhändler und rund 50 Landwirte.

Mühlacker-Boykott von Lienzinger Milch?

Weil nähere Unterlagen fehlen, bleibt ein Brief vom 20. Juli 1933 etwas rätselhaft. Darin hadert der Milchwirtschaftliche Zusammenschluss nördlicher württembergischer Schwarzwald mit Sitz in Calw über einen üblen Vertrag mit Mühlacker, der offenkundig den Verkauf von Milch aus Lienzingen in der Nachbarstadt untersagte. So ist der Inhalt zu interpretieren, denn am Ende des einseitigen Briefes heißt es, damit sei wieder der Absatz in Mühlacker gesichert und die drei Händler seien per Einschreibebrief aufgefordert worden, Lienzinger Milch nach Mühlacker mitzunehmen. Bei Verstoß drohe der Entzug der Handelserlaubnis.

So fördert die Milchhäusle-Recherche manche in der Tiefe verschwundene Nachricht ans Tageslicht - zur Überraschung selbst das Autors. Der Boykott! Eine ganz neue Variante in den Beziehungen zwischen Mühlacker und Lienzingen.

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