Schutzgebiete von heute werden zu den Gefängnissen von morgen

Das Buch, das in die aktuelle politische Landschaft passt. Zum Ruf der Grünen nach einer Klimaregierung. Eine Handreichung und Argumentationshilfe gegen Klimawandelleugner. Wieviel Klimaschutz darf, ja muss es in der neuen Koalitionsvereinbarung im Bund sein? Das eine Modell ist Berlin, das andere Stuttgart: Die Schwarzen zusammen mit dem Grünen in Baden-Württemberg seit der Bildung des dritten Kabinetts Kretschmann - nach der Landtagswahl vom März 2021 - auf verschärftem Klimaschutzkurs. Global und regional gleichermaßen greift Benjamin von Brackel auf 288 Seiten spannend und anschaulich das Thema Nr.1 auf: zeigt auf, wie sich der Klimawandel in Zukunft auf Tier- und Pflanzenarten auswirkt. Dramatische Auswirkungen des Klimawandels – nicht zuletzt auch auf den Menschen, an dem die Wanderung der Arten nicht spurlos vorbeigeht.

Ausgerechnet die Schutzgebiete von heute würden zu den Gefängnissen von morgen, schreibt Benjamin von Brackel. Artengemeinschaften, wie wir sie heute kennen, brechen in einzelne Bestandteile auseinander. Manche Arten sterben aus, andere können an neuen Orten überleben. NASA-Forscher erklärten schon 1985, spätestens zur Jahrtausendwende würden die allermeisten Arten ihren langen Marsch über den Globus antreten und der globalen Erwärmung eine Gestalt geben. Meeresbewohner stoßen im Schnitt 72 Kilometer pro Jahrzehnt vor, Landbewohner 17 Kilometer.

Der Autor will die Leser auf eine Spurensuche mitnehmen - vom Nordpol bis zu den Tropen. Trotz Warnungen tat sich nichts. Die Länder der Erde sollten den Ausstoß von Kohlendioxid drosseln, um den Klimawandel so weit wie möglich zu begrenzen. Das größte Freilandexperiment aller Zeiten nahm ungehindert seinen Lauf. Man kann auch sagen: die ökologische Katastrophe. Die Arktis schrumpft. Biber tauchten in der Tundra auf, fanden Nahrung und Baumaterial für ihre Dämme, mit denen sie Gewässer aufstauten und so das Bild der Flusslandschaft veränderten.

Bei dem Tempo, mit der sich diese Entwicklung vollzieht, haben die meisten Arktisarten keine Chance, sich evolutionär an den Klimawandel anzupassen. Polarfüchse auf der Flucht, Rotfüchse kamen nach. Dank der Einwanderer aus dem Süden wachse der Artenreichtum in der Arktis. Gleichzeitig nimmt der Beitrag der Arktis zur Biodiversität der ganzen Welt ab, sollten polare Arten aussterben, sollten sie keinen Weg finden, in Zeiten des Klimawandels zu überleben. Der Verdrängungskampf im äußersten Norden der Kontinente beginne erst, im arktischen Ozean sei der schon voll im Gange. Wenn sich das Beringmeer massiv erwärme und immer weniger Eis trage, könne es innerhalb von Monaten zur Auswechslung seiner Bewohner kommen. Regimewechsel im Ozean, die thermische Barriere fällt, heißt denn auch eines der Kapitel.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich die allermeisten Menschen seit mindestens sechs Jahrtausenden in einem überraschend schmalen Band um den Globus herum eingerichtet haben, bei einem durchschnittlichen Temperaturfenster von 11 bis 15 Grad Celsius, rechnen Experten für die nächsten 50 Jahre mit 20 Grad, wo heute 15 Grad herrschen, wenn wir weiterhin fleißig unsere fossilen Reserven verfeuern. Hitze wie in der Sahara drohen auf bis zu 19 Prozent der Erdoberfläche gegenüber einem Prozent heute. Die grundsätzliche Situation ist für den Autor klar: Der Mensch reiht sich damit in den langen Marsch der Arten über den Globus ein. Einfacher gesagt: Klimaflüchtlinge sind unterwegs.

Benjamin von Brackel (Copyright: StöhrFotografie)

Ein spannendes Buch. Und ein ungewöhnlich aufgebautes Buch, dessen Kapitel wie Briefe aus unterschiedlichen Zeiten und Jahren präsentiert werden. So Kapitel 17 - Neustart: Versöhnung mit der Natur: UN-Hauptquartier New York, 30. September 2020. Es sind Lösungsansätze unter dem Motto: Der Natur wieder mehr Raum geben. Dazu kann jede Kommune einen Beitrag leisten - Trittsteine. Doch niemand darf sich etwas vormachen: Schnell-Lösungen, die die bisherigen Versäumnisse, quasi auf Anhieb ausgleichen, gibt es nicht. Politik ist gerade hier ein Bohren dicker Bretter, wie schon Max Weber sagte.

Der Autor: Benjamin von Brackel, Jahrgang 1982, hat in Berlin und Erlangen Politikwissenschaften studiert und die Deutsche Journalistenschule in München besucht. Er arbeitet als freier Umweltjournalist in Berlin, hat das Onlinemagazin Klimareporter° mitbegründet und die Bücher "Wütendes Wetter" und "Die Natur auf der Flucht" geschrieben. Seit 2016 schreibt er im Wissensressort der SZ über die Klimakrise. Er twittert: @BvBrackel

Info: Von Brackel. S.: Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbären trifft – Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt. 288 Seiten, 13,5 x 20,6 cm, 12 s/w Abbildungen. Heyne-Verlag, Taschenbuch, 2021. ISBN 978-3-453-60574-9. 12,99 Euro.

Die Leseprobe:

Washington D.C., 1985
Die Idee war ihm unter der Dusche gekommen. Dort hatte er oft die besten Einfälle. Robert Peters, von Freunden und Kollegen Rob genannt, hatte gerade seinen Biologieabschluss an der Universität Princeton in der Tasche und seinen ersten Job in der Hauptstadt bei einer kleinen Naturschutzorganisation namens Conservation Foundation begonnen. Für diese sollte er nun einen Aufsatz über den idealen Zuschnitt von Naturschutzgebieten schreiben. Im ganzen Land diskutierte die Umweltschutzszene: Ist es besser, ein großes Naturschutzgebiet zu haben oder doch lieber viele kleine?

Was wie eine nebensächliche Frage klingt, die eine kleine Gruppe von Experten beschäftigt, war alles andere als das. Diese Frage hatte aktuelle Relevanz: Auf der ganzen Welt schrumpften die Lebensräume für Tiere und Pflanzen, weil sich der Mensch immer weiter ausbreitete. Mehr und mehr Habitate waren umgeben von Städten und Ackerflächen oder zerschnitten von Straßen und Kanälen. Sie glichen Inseln im Meer.

Deshalb war es kein Zufall, dass sich Biologen wie Peters aus den Erkenntnissen der sogenannten Insel-Biogeografie bedienten, einem Fachgebiet, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Arten auf Inseln entwickeln und wie sie aussterben. Grob gesagt kamen sie zu dem Schluss, dass Inseln umso weniger Ar-ten beherbergen, je weiter sie vom Festland entfernt liegen und je isolierter und kleiner sie sind. Entscheidend für die Artenvielfalt ist schließlich der Austausch.

Das ließ sich auch auf fragmentierte Gebiete an Land übertragen: Waldstücke oder Naturschutzgebiete zum Beispiel. Da-mit hatten die Biologen eine neue Möglichkeit in der Hand, um zu berechnen, wie schnell die Arten dort aussterben werden. Peters versank mit seinen Überlegungen regelrecht in der Materie, ehe er per Zufall auf ein weiteres Phänomen stieß, das die isolierten Lebensräume zu einem noch viel größeren Problem für die Arten machen sollte, als sie es ohnehin schon waren. Was als Schutzraum gedacht war, könnte sich auf lange Sicht als Falle herausstellen.

Unter der Dusche erinnerte sich Peters an einen Science-Artikel, der ihm in die Hände gefallen war. In diesem hatten NASA-Wissenschaftler die möglichen Auswirkungen des Treibhauseffekts beschrieben, eines Phänomens, über das noch kaum jemand sprach, und wenn, dann als Erscheinung der fernen Zu-kunft. Von sich verschiebenden Klimazonen schrieben die Wis-senschaftler, welche ganze Landschaften in Nordamerika und Zentralasien in Wüsten verwandeln und den westantarktischen Eisschild abschmelzen lassen würden.

Peters malte sich aus, was mit den Lebewesen in den Naturschutzgebieten passieren würde, wenn sich eines Tages die Klimazonen vom Äquator in Richtung beider Pole verschieben sollten. Und mit ihnen die Vegetationszonen. Dann, so wurde ihm klar, würden die Bedingungen für viele Arten schlagartig nicht mehr stimmen. Wer sich nicht anpassen konnte, würde zugrunde gehen. Es sei denn, den Arten würde es gelingen, ab-zuwandern. Aber wohin? Aus den Naturschutzgebieten her-aus? »Mein Gott«, dachte sich Peters, während das Wasser auf ihn herabprasselte. »Das wird furchtbar!«

Der Umweltschützer suchte die nächstgelegene Bibliothek auf. Er wollte wissen, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahren zu diesem drohenden Problem herausgefunden hatte. Er fand nichts.

Dann unterhielt er sich mit Artenschützern.

Keiner wusste etwas darüber. »Es wurde mir ziemlich schnell klar, dass niemand jemals darüber nachgedacht hatte«, erzählt Peters rückblickend. »Ich fühlte mich, als würde ich auf einem Gehsteig einen Zwanzig-Dollar-Schein finden, während alle Menschen daran vorbeilaufen und keiner ihn aufhebt.« Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er sich.

Peters wusste, dass er an etwas Großem dran war, etwas, das ihn im heutigen Licht als Visionär erscheinen lässt, gehören doch apokalyptische Bilder von Kängurus, die durch verkohlte Wälder in Australien hüpfen, inzwischen genauso zu unserem Alltag wie ausgeblichene Korallenriffe oder Elche, die, übersät von Zecken, in kanadische Supermärkte einfallen. Peters suchte deshalb Bob Jenkins auf, den Chefwissenschaftler von Nature Conservancy, einer der größten Natur-schutzorganisationen der USA, die ihren Sitz ebenfalls in Wa-shington, D.C. hat, in der Nähe des Weißen Hauses. Dieser hörte sich an, was der junge Biologe zu sagen hatte. Von seiner Antwort, die dann folgte, blieben Peters zwei Sätze im Kopf hängen. »Eine lächerliche Idee.« Und: »Für den Artenschutz voll-kommen wertlos.«

Diese Reaktion zeigte selbst bei einem Dickkopf wie Peters Wirkung: Der junge Uni-Absolvent, erst am Anfang seiner Karriere, war eingeschüchtert. Er stand als Spinner da. Trotz-dem ließ ihn die Idee nicht mehr los. Er verliebte sich geradezu in sie. Also bat er eine befreundete Kollegin, die Ökologin Joan Darling, ihm bei seinem Fachartikel zu helfen. Sie wusste im Gegensatz zu ihm, was nötig war, um ihn zu publizieren. Und was als Erstes nötig war: mehr Informationen.

Diese fand er in der tiefen Vergangenheit. In der Arbeit von Forschern, die sich mit Vorliebe am Grund von Seen oder Mooren durch schlackige Sedimentschichten wühlen. Dort suchen Paläobiologen nach fossilem Blütenstaub. Bis zu hunderttausend Pollenkörner finden sich allein in einem Kubikzentimeter Seesediment. Für die Fossilienforscher ist das ein wahrer Schatz, der einen Blick weit zurück in die Geschichte des Lebens gewährt.

Durch besondere Lasermikroskope betrachten sie Pollen in drei Dimensionen. Aus ihrer Form können die Forscher auf die Gattung schließen, von der die Pollen abstammen, manchmal sogar auf die Art. Mehr noch: Sie können bestimmen, wann und wie viele Exemplare einer bestimmten Pflanzenart in der Erdgeschichte gewachsen sind. Denn jedes Jahr lagert sich auf dem Seegrund eine neue Sedimentschicht ab. Weil aber diese im Sommer anders gefärbt ist als im Winter, bilden sich ähnlich wie bei Bäumen Jahresringe. Aus diesen sogenannten Warven können die Paläoontologen Rückschlüsse auf frühere Klimaschwankungen ziehen, aber auch darauf, wie die Pflanzen darauf reagiert haben: Wie schnell breiteten sie sich über die Jahrtausende aus oder zogen sich zurück?

Diese Chronik der Erdgeschichte berichtete Peters von einem wiederkehrenden, archaischen Phänomen: Ungefähr alle hunderttausend Jahre setzt auf der Erde eine Warmzeit ein, die jede Tier- und Pflanzenart aktiviert und das Leben auf unserem Planeten neu verteilt. Scheinbar in stiller Übereinkunft begibt sich eine Art nach der anderen an Land und im Meer auf Wanderschaft: Insekten und Vögel, Amphibien und Reptilien ...

 

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