Schäubles gedruckte Gedanken-Börse

Im ersten Moment irritiert das Inhaltsverzeichnis. Steht da Wolfgang Schäuble nur drauf und ist wenig Wolfgang Schäuble drin? Nein! Da schreibt nicht einer am Stück durch vom ersten bis zum letzten Blatt, um dann mehr als 300 Seiten vorzulegen mit eigenen Analysen, Eindrücken, sozusagen als seine gebundene Meinung. Wie wir an Krisen wachsen - Grenzerfahrungen lautet der Titel des im Siedler-Verlag erschienenen Buches. Eine Anstiftung, über die Zukunft zu streiten, und eine Ermutigung, das Bewährte zu wahren und Neues zu wagen, steht an einer Stelle des Druckwerkes. Das ist Anspruch und Anreiz zugleich.

Mir fällt dazu ein anderes, jedoch früheres Medienformat ein. Wer erinnert sich noch an die beliebte Gesprächsreihe im Fernsehen von Günter Gaus (1929-2004)? Schäuble statt Gaus, Buch statt TV. Gaus? Klicken wir Wikipedia an: Bekannt wurde seine Sendereihe Zur Person, die zum ersten Mal am 10. April 1963 im ZDF ausgestrahlt wurde. Hierin stellte Gaus jeweils einen Gast in Form eines Interviews vor. Die so entstandenen Porträts von Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern gelten als Klassiker. Journalist Gaus selbst war in den Sendungen meist nur zu hören war.  Gaus‘ Art, nachzufassen, glich denn auch eher einem Gedankenaustausch statt der reinen Auflistung von Lebensstationen.

Wolfgang Schäubles gedruckte Gedanken-Börse. Das soll nicht despektierlich sein, ich meine den Reichtum an Ideen, Meinungen und persönlichen Erfahrungen. Der christdemokratische Spitzenmann aus Baden will den Menschen die Furcht vor politischen Grenzerfahrungen nehmen. Die Coronakrise stelle mit ihren Folgen für unsere Art, zu leben und zu wirtschaften, viele unserer Gewissheiten infrage und gefühlte Selbstverständlichkeiten auf den Kopf. Sie bedeute eine Art kollektive Grenzerfahrung, in dem sie Knappheiten aufzeige und uns dadurch Wertigkeiten neu oder anders bestimmen lasse. Von dieser optimistischen Position aus argumentiert der Bundestagspräsident. Er lässt sich in diesem Buch von einer Grundprämisse westlichen Denkens leiten: von der Bereitschaft zu kritischer Selbstreflektion und zur kontroversen Debatte.

Eine illustre Runde. Entstanden sind sieben Essays und Protokolle von Gesprächen Schäubles mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft: mit Buchautor Rutger Bregmann, dem Grünen-Vordenker Ralf Fücks, der Transformationsforscherin und Politik-Ökonomin Maja Göpel, Frankreichs Ex-Verteidigungsministerin Sylvie Goulard, dem Wirtschaftsjournalisten Rainer Hank, dem Historiker und Politologen Jacques Schuster, dem Soziologen Armin Nassehi, der Unternehmerin Diana Kinnert und Ivan Krastev, Wissenschaftler aus Bulgarien. Ein Kreis attraktiver Namen und Frei-Denker.

Schäubles niedergeschriebene Gedanken sind für die Leser-Schar anregend, das Zusammenspannen mit den Positionen anderer zwischen zwei Buchdeckeln macht dieses Werk noch wertvoller. Unter dem Eindruck der Pandemie entstand die Idee zu diesem Buch, verrät Autor und Politiker Schäuble. Krisenerfahrung als Ausgangspunkt, um nicht nur sich selbst zu hinterfragen und zu überdenken, sondern sie mit interessanten Gesprächspartnern zu diskutieren und weiterzuentwickeln. So gesehen: Wo Schäuble draufgeht, ist Schäuble auch drin. Weil er kein Meinungsmonopolist ist, bleibt auch Platz für Anders- oder Gleichdenkende.

Eine empfehlenswerte Lektüre für Menschen, die den Optimismus nicht verloren haben. Deutschland erlebe mitten im erzwungenen Stillstand durch Lockdown in vielen Bereichen eine ungeahnte Beweglichkeit. Jahre lang wurde die Online-Sprechstunde skeptisch beurteilt, jetzt ist sie Realität. Unternehmen realisieren in Windeseile den langjährigen und immer wieder verschobenen Plan, auf das digitale Büro umzustellen und machen nun die Erfahrung, dass sich so auch auf manche Dienstreise verzichten lässt. Selbst die Verwaltungen legen bislang nicht bekannte Flexibilität an den Tag. Zum Beispiel, als lokale Note, virtuelle Gemeinderats- und Kreistagssitzungen.

Nicht alles ist schlecht an den Folgen von Corona. Doch manches hätte sich auch ohne die Pandemie erreichen lassen, wären da nicht die ewigen Bedenkenträger.

Info: Schäuble, Wolfgang: Grenzerfahrungen, Siedler-Verlag, ISBN 978-3-8275-0144-8. 24 Euro.

Leseprobe: Wolfgang Schäuble, Grenzerfahrungen, Seiten 30 ff

Gerade in schwierigen Situationen wird deutlich, wie wandlungs- und anpassungsfähig wir sind. Wir können in Krisen immense Kräfte entfalten, die wir uns vorher gar nicht zugetraut haben, Grenzen überwinden und das Leben anders wahrnehmen. Diese Erfahrung ist prägend. Als ich in der Klinik in Freiburg war, nachdem ein psychisch kranker Mann auf mich geschossen hatte, musste ich sie machen. Mir ging es in der ersten Zeit auf der Intensivstation wirklich elend. Ich wusste schon, dass ich im Rollstuhl sitzen muss, als mich ein guter Freund, der auch unser Gemeindepfarrer war, besuchte. Er sagte: »Weißt du, ich habe da auch keinen so ganz richtigen Trost. Aber was ich dir sagen kann: Es ist auch Leben.« Natürlich hat dieses einschneidende Erlebnis mein Leben völlig verändert. Aber zu behaupten, ich wäre jetzt in den vergangenen dreißig Jahren weniger glücklich gewesen, das wäre falsch.

Die Erfahrung lehrt, dass wir Dinge erst zu schätzen lernen, wenn es an ihnen mangelt. Die tröstliche Botschaft, die man daraus trotzdem ableiten kann, heißt: Der Mensch kann sich verblüffend schnell anpassen, sogar an schlimme Not. Natürlich strebt jeder danach, dass es »aufwärts« oder »voran« geht, dass es den Kindern schließlich noch besser gehen wird. Wenn die Umstände aber ungewöhnliche Härten oder Mangel bringen, muss das nicht heißen, dass die Menschen deshalb weniger Glück empfinden.

Eine wichtige menschliche Grunderfahrung ist das Geben, das dem Sprichwort zufolge seliger ist als sein Pendant, das Nehmen. Es entspringt einem menschlichen Bedürfnis, dem Gegenüber die Hand zu reichen und eine wechselseitige Verbindlichkeit zu schaffen, füreinander einzustehen. In modernen Gesellschaften übernimmt der Staat Verantwortung für die Gemeinschaft. Je mehr die Bürger allerdings vom Staat erwarten, umso enger werden ihre eigenen Spielräume. Zudem sinkt die Motivation, sich zu engagieren, wenn Leistung ohne Gegenleistung geboten wird. Der Sozialstaat muss eine Balance zwischen Überforderung und Unterforderung finden, die Mitte zwischen gefährlicher Vernachlässigung und lähmender Überforderung immer neu suchen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen vor allem dann glücklich sind, wenn sie ernst genommen werden in ihren Bedürfnissen und ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn sie Aufgaben erfüllen können, stellt sich Befriedigung ein. Deshalb ist Bürgerengagement so eine wichtige gesellschaftliche Ressource. Wer mit eigener Initiative etwas selbst in die Hand nimmt und Veränderungen nicht einfach geschehen lässt, sondern selbst lenkend oder rettend eingreift, empfindet Befriedigung. Ideen zu entwickeln und mit Energie auf Herausforderungen zu reagieren, ist nicht Sache der Verwaltung, sondern der Bürger selbst. Der Staat muss denen, die einen besonderen Willen zur Veränderung haben, die nötigen Freiräume geben. Davon können wir alle profitieren und das macht die Freiheit der Bürgergesellschaft aus.

Der Staat hat die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen die Freiheit des Einzelnen, das Zusammenleben aller und das Gemeinwohl gesichert sind. Er trifft Daseinsvorsorge für alle, sollte ein allgemeines Bildungswesen und eine funktionierende Infrastruktur bereitstellen, die öffentliche Sicherheit nach innen und außen garantieren und Leitplanken für eine lebenswerte, produktive und solidarische Gesellschaft setzen. Aber im sozialen Miteinander sollten wir auch nicht alles gesetzlicregeln oder staatlich verwalten wollen. Und wir sollten auch nicht erwarten, dass alles gesetzlich geregelt oder verwaltet wird. Selbst aktiv werden, eigene Prioritäten setzen und gestaltend wirken: Wer sich im Ehrenamt engagiert, weiß, was damit gemeint ist. Denn nicht nur der Hilfsbedürftigkeit des einen wird abgeholfen, auch der andere macht eine elementare Erfahrung: Er tut Gutes, ungefragt und aus sich heraus. Er macht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, indem er die Grenze zwischen sich und anderen überwindet.

Technologie an der Grenze zum Menschlichen

Noch etwas anderes bestimmt das gesellschaftliche Befinden: In der Globalisierung sind wir zuletzt vielfach an die Grenzen der menschlich vertretbaren Geschwindigkeit in Kommunikation und Mobilität gestoßen. Die radikale Entschleunigung im Shutdown hat uns das bewusst gemacht. Wir leben in permanenter Überdrehung, und nicht wenige Menschen empfinden fast eine Sehnsucht nach mehr Langsamkeit – im Sinne Solons, des antiken Gesetzgebers, der es für klug hielt, ein Land nicht schneller verändern zu wollen, »als das Volk ertragen kann«. Auch im Wandel muss der Mensch Mensch bleiben können. Wenn wir die Erfahrung der Pandemie jetzt nutzen, um Veränderungen anzustoßen, sollten wir sie deshalb so gestalten, dass die Menschen Schritt halten, mit den Veränderungen fertigwerden können – national wie global. Wir müssen den technologischen Fortschritt, wie wir ihn erleben, und die fortschreitende Entwicklung in anderen Regionen der Welt mit dem Befinden der Menschen in Einklang bringen und Grenzen des Menschlichen akzeptieren. Nur so werden wir unseren Traditionen und unserer Kultur gerecht.

Angesichts der Pandemie hat sich der Blickwinkel geweitet: Zwar sind zentrale Fragen noch offen und wir wissen längst noch nicht, wie wir langfristig mit Risikogruppen umgehen wollen.

 

 

 

 

 

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