Bürgermeister attackiert renitenten Gemeindepfleger - und andere Lienzinger Geschichte(n)

Mitten drin das Rathaus. 1969. Foto: Erich Tschoepe, Bremerhaven. Foto aus der Smlg. Volker Hermle)

Machtzentrale? Nein, zu hochgestochen! Entscheidungszentrum? Hört sich an wie das Lagezentrum einer Polizeidirektion. Als weiland Richard Allmendinger im Lienzinger Rathaus regierte (1947 bis 1975), war der Raum in der ersten Etage – gleich nach der Treppe rechts, dann links -  sein Amtszimmer. Der Umschlagplatz für Informationen, Entscheidungen und auch für ein bisschen Dorfklatsch. Der Schultes an einem Schreibtisch, der auf Zweckmäßigkeit, aber gleichzeitig auf Sparsamkeit bei Entscheidungskriterien für die Anschaffungen schließen ließ. Von diesem Eckzimmer aus wurde die Kommune gesteuert. 


Lienzinger Geschichte(n): Meine Serie zur Nachkriegsgeschichte der selbstständigen Gemeinde Lienzingen. Mit Richard Allmendinger als Bürgermeister, dem aufsässigen Gemeindepfleger Emil Geißler, der Schultes-Attacke im Gemeinderat, einer äußerst sparsamen Verwaltung und vieles mehr aus Protokollen des Rats und Akten der Verwaltung, aber auch eigenem Erleben


Herr Bürgermeister, man sott on des möglichscht schnell … Das war er: Auskunftsstelle, Klagemauer, Ideensammler, Antriebsfeder, Entscheider, Wünsche-Verweigerer, Adressat für Lob und Kritik in einer Person. Die Tür zu seinem Raum stand häufig offen, so sah er meist, wer kam und wer ging. Der Bürger in Rufweite. Der Schultes, gleichzeitig einziger Beamter und oberster Sachwalter der Gemeinde, als Mann, der vieles wusste, aber nicht alles sagte.

Bürgermeister Richard Allmendinger mit dem langjährigen Amtsboten Wilhelm Scheck (1981, Foto: STAM, Smlg. Gerhard Schwab). Scheck, Jahrgang 1899, war der letzte Amtsbote Lienzingens

Im lang gestreckten Raum vor dieser Chef-Leitstelle das Vor- und Auskunftszimmer, fest in weiblicher Hand, wobei das nicht auf mehrere Personalstellen schließen lassen darf. Ganze zwei Verwaltungsangestellte waren es zuletzt: Lieselotte Zach, seit Ende der vierziger Jahre dabei, und Marianne Thumm, die bei der Gemeinde Lienzingen zunächst 1960 mit der Lehre begann und dann dort bis zur Zwangseingemeindung der Kommune nach Mühlacker 1975 blieb.  Links ab der Treppe führte der  Weg zum Gemeindepfleger, zuletzt Walter Vogt. 

Ab und zu schaute im Rathaus der Hausmeister, der die Schule und die benachbarte Gemeindehalle gleichermaßen betreute. Zudem musste im Vorzimmer der beiden Mitarbeiterinnen ein kleiner Platz freigehalten werden für den Amtsboten, der Briefe zustellte, Anschlagkästen bestückte und bis um 1970 die amtlichen Bekanntmachungen ausschelte. Wilhelm Scheck (Jahrgang 1899) war der letzte Amtsbote Lienzingens, der - bis Anfang 1969 - die amtlichen und andere Nachrichten noch durch Ausrufen an verschiedenen Stellen im Ort bekannt gab. Für die Dorfjugend ein Erlebnis. 

Des Fronmeisters Arbeitsplatz wiederum war praktisch die ganze Markung mit einem Stützpunkt in der Kelter für Unimog und Gerätschaften  – dieser technische Mitarbeiter hieß Dieter Straub zuletzt, zuvor sein Vater Karl. Ab und zu diente er auch als Chauffeur des Chefs.

  • Klein, sparsam, schlagkräftig. Traumhaft niedrige Personalkosten

Das war sie, die Verwaltung: klein, sparsam, trotzdem schlagkräftig. Ein Blick in die Haushaltspläne der Kommune verrät traumhaft niedrige Personalkosten pro Einwohner: 54,60 Mark anno 1963, acht Jahre später 56,26 Mark. Je Kopf nahm die Gemeinde 150,51 Mark an Steuern 1963 ein, 1971 waren es 329,20 Mark (Durchschnitt im Landkreis Vaihingen 393,06 Mark). In der gleichen Gemeindegröße sind es aktuell in Baden-Württemberg je Einwohner an Steuern 1452,11 Euro (wären 2840,08 Mark). 

Gemeindepfleger? Nein, das war keine Pflegekraft, der sich um die Kranken im Ort kümmerte. Der hier gemeinte Gemeindepfleger pflegte die Finanzen der Kommune. Entweder Fachbeamter für das Finanzwesen - im Falle Lienzingen hatte nur der Bürgermeister selbst diese Voraussetzungen, der auch eigenhändig den jährlichen Etat aufstellte – oder aber die rechte Hand des Schultes als Kassenverwalter. 26 Jahre war dies, wenn auch nur in Teilzeit, Emil Geißler: vom 7. Juli 1934 ohne Unterbrechung bis 31. Dezember 1961. Zuerst mit der Amtsbezeichnung Beigeordneter, dann von 1946 an als Gemeindepfleger (Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Li B 326, S. 122).

  • Mängel in der Amtsführung des Gemeindepflegers

Zwischen Geißler, gleichzeitig Landwirt im Ort, und Allmendinger, jüngerer und umtriebiger  Fachmann von außen, knirschte es immer wieder, kam es auch zum offenen Streit. Eine heftige Attacke ritt der Schultes in der Gemeinderatssitzung am 11. November 1960. Im Verlauf der Unterhaltung am Schluss der Sitzung – unter Punkt 10 – seien Tätigkeit und Verhalten von Emil Geißler zur Sprache gekommen, heißt es in dem vom Bürgermeister verfassten Protokoll. Er zitierte sich selbst, sprach demnach von einzelnen Mängeln in der Amtsführung des Gemeindepflegers. 

Die Vorwürfe hatten es in sich, hätten für den Rausschmiss gereicht. Geißler widersetze sich, so weiter im Protokoll, den Anweisungen des Bürgermeisters, zeige auch kein allzu großes Interesse am Einzug der ihm obliegenden Pflicht beim Einzug der Steuern und Abgaben. So habe Geißler schon wiederholt die Annahme von Zahlungen verweigert oder Gegenforderungen der Gemeinde mit Forderungen der Schuldner nicht verrechnet. Ernsthafte Ermahnungen des Bürgermeisters hätten nicht immer genutzt und stets zu unliebsamen Auseinandersetzungen geführt. Gemeindepfleger Geißler habe in letzter Zeit Zahlungsanweisungen des Bürgermeisters verweigert, weil er das Konto der Gemeinde nicht habe überziehen wollen, obwohl der Gemeinde ein Kassenkredit  von 10.000 Mark zur Verfügung stehe. 

Im Jahr 1957 vermutlich auf Einladung von Jagdpächter Friedrich Münch: Links Bürgermeister Richard Allmendinger, von rechts die Gemeinderäte Erwin Schmollinger, Johann Fode, Erwin Bonnet, dann Gastgeber Friedrich Münch, Gemeindepfleger Emil Geißler sowie die Gemeinderäte Reinhold Heinzmann, Fritz Häcker, Rudolf Rommel, Viktor Geiger und Volker Ferschel (Foto: Smlg Stadtarchiv Mühlacker)
  • Kassenschrank der Kommune beim Gemeindepfleger zuhause

Der Konflikt schwelte offenbar schon länger, denn in der Sitzungsniederschrift findet sich noch die Aussage Allmendingers, er – der Bürgermeister – habe bisher wegen des guten Rufes der Familie Geißler von Gegenmaßnahmen abgesehen. Die andauernden Reibereien würden jedoch an seiner Nervenkraft zehren, die er zur Bewältigung der großen Aufgaben der Gemeinde so dringend benötige. Der Schultes verriet auch, das Probleme mit Landrat Dr. Friedrich Kuhnle anlässlich der Einweihung der neuen Schule wenige Tage zuvor besprochen zu haben.  Im Falle Geißler hatte er, Kuhnle, ihm geraten, sich durchzusetzen. Zumal der Verwaltungschef nicht immer handeln konnte, da sich der kommunale Kassenschrank immer noch in der Wohnung des Gemeindepflegers befinde. So lägen dort immer wieder tagelang Rechnungsakten. Dadurch trete ab und zu eine Behinderung in der Arbeitsweise ein.

Der Gemeinderat stärkte laut Protokoll dem Schultes den Rücken und beschloss, Geißler zu ersuchen, keine Akten mehr nach Hause zu nehmen und den Kassenschrank ins Rathaus zurückzubringen. Gleichzeitig übernahm Gemeinderat Erwin Bonnet, Landwirt wie Geißler, den Auftrag, den Gemeindepfleger in Kenntnis zu setzen, dass er im Falle der weiteren Weigerung von Anweisungen des Bürgermeisters die Folgen zu tragen habe. Ob Geißler in der Sitzung der Abrechnung anwesend war, erschließt sich dem Leser des Protokolls nicht, jedenfalls wird keine Gegenrede des so Angegriffenen zitiert (STAM, Li B 326, S. 66).

Der rathausinterne Krach erledigte sich bald darauf von allein, denn Geißler kündigte alters- und krankheitshalber auf 31. Dezember 1961, wie dem Gemeinderat am 1. Dezember mitgeteilt wurde. Der Gemeindepfleger befinde sich in stationärer Behandlung, versehe deshalb seinen Dienst schon nicht mehr und der Gemeinderat stimmte der Ausschreibung der Stelle zu (STAM, Li B 326, S. 119). Unter dem 22. Dezember 1961 findet sich denn der Eintrag in der Sitzungsniederschrift, in dem ein anderer Ton angeschlagen wurde wie ein gutes Jahr zuvor. Auf Vorschlag des Bürgermeisters genehmigten die Gemeinderäte als Abschiedsgeschenk einen Sessel bis zum Wert von 180 Mark und würdigt damit seine jederzeit treue Kassenführung. Eine Ära ging zu Ende.

  • Vogt scheint ein ruhiger und sachlicher Mitarbeiter zu werden

In derselben Sitzung regelte das Ortsparlament auch die Nachfolge. Beworben hatten sich zwei Lienzinger, ein Mann und eine Frau, wobei letztere aber nur halbtags tätig sein wollte. Der Bürgermeister warb für einen 100-Prozent-Arbeitsauftrag für den männlichen Bewerber, dem dann auch andere Verwaltungsaufgaben übertragen werden könnten. Bei Beschäftigung von verheirateten weiblichen Kräften könne oftmals kurzfristig eine Veränderung eintreten – wobei Allmendinger offen ließ, was er damit konkret meinte. Mit zehn zu eins Stimmen entschied sich der Gemeinderat für Walter Vogt (Jahrgang 1930), kaufmännischer Angestellter, seinerzeit Former (STAM, LI B 326, S. 120 f). Vogt bestand die dreimonatige Bewährungszeit: Er hat sich in der Zwischenzeit im allgemeinen bewährt und scheint ein ruhiger und sachlicher Mitarbeiter zu werden.  Der Gemeinderat stimmte am 11. Mai 1962 dem Abschluss eines Dienstvertrags zu und legte die Aufteilung der Stelle fest: 60 Prozent Gemeindepfleger und 40 Prozent Verwaltungsangestellter (STAM, Li B 326, S. 148).

Aber somit ist auch klar: Da gab es noch weitere Personen, die die Entscheidungen treffen - die zehn Gemeinderäte, die teilweise mehrmals im Monat im Saal des Erdgeschosses des Rathauses tagten. Ein Gremium ohne Ausschüsse und Fraktionen: Das Hauptorgan der Gemeinde, wie es in der Gemeindeordnung Baden-Württemberg formuliert wird. Das eigentliche Machtzentrum. Was im ersten Stock  umgesetzt werden konnte, musste zuerst im Erdgeschoss genehmigt werden. Aus dem Kreis der gleichberechtigten Zehn hoben sich aber zwei heraus: die stellvertretenden Bürgermeister, immer zu Beginn einer Amtsperiode zu wählen. Bis 1956 gab es nur einen (der Rat zählte, neben dem Schultes, auch nur acht Mitglieder), dann – bei zehn – waren es zwei. 

  • Nun kam Erwin Schmollinger zum Zuge

Meist liefen die Vize-Wahlen weitgehend reibungslos ab. Nur am 10. Dezember 1956 verhedderte sich das Gremium. Vorgeschlagen waren Erwin Bonnet, Erwin Schmollinger und Adolf Brüstle. Nachdem eine offene Wahl nicht zu empfehlen war, wurde sie geheim mit Stimmzetteln durchgeführt, steht im Protokoll. Das Ergebnis: Bonnet 3, Brüstle 3, Schmollinger 4. Damit verpassten alle die notwendige absolute Mehrheit. Das Problem: Eine Stichwahl blieb auch verwehrt, weil zwei der drei Kandidaten die gleiche Stimmenzahl hatten. Brüstle erklärte, seine Bewerbung zurückzuziehen, ließ sich dann aber gleich umstimmen und schlug eine Wiederholung der Abstimmung vor. Volker Ferschel wiederum beantragte, die Rechtsaufsicht des Landratsamtes Vaihingen einzuschalten. Brüstles Vorschlag ging mit sechs von zehn Stimmen durch. Beim zweiten Wahlgang blieb die Entscheidung wieder aus (Schmollinger 5, Bonnet 2, Brüstle 3). Damit war der Weg frei zu einer Stichwahl: Mit sieben Stimmen löste Brüstle seinen Landwirtskollegen Eberhard Pfullinger als stellvertretenden Bürgermeister ab, der 1956 als Gemeinderatsmitglied abgewählt worden war, jedoch drei Jahre später den Wiedereinzug schaffte (STAM, Li B 325, S. 119 f). Doch einige Wochen danach verunglückte Brüstle mit seinem Traktor und überlebte den Unfall an der unteren Kehre der Steige nicht. Nun kam Erwin Schmollinger zum Zuge.

  • Gleichzeitig stellvertretender Standesbeamter und er durfte Ehen schließen

Ungewöhnlich war, dass 1968 mit Wilhelm Tochtermann ein Neuling im Rat als erster Bürgermeister-Stellvertreter zum Zuge kam. 1971 bestätigte ihn das Gremium in dieser Funktion (STAM, Li B 328, S. 125). Er blieb dies bis zum Anschluss von Lienzingen an die Stadt Mühlacker. In dem Kampf gegen die Eingemeindung profilierte er sich über die Gemeinde hinaus als Kopf der Gegner, nachdem Allmendinger die Aufgabe der Unabhängigkeit zwar ebenfalls für falsch ansah, aber immer sagte, an seiner Person solle eine freiwillige Eingemeindung nicht scheitern (Quelle: https://www.guenter-baechle.de/blog/index.php?/archives/2271-Staatsgerichtshof,-Stuttgart,-Neues-Schloss,-Weisser-Saal,-um-9-Vor-45-Jahren-das-Aus-fuer-Lienzingens-Unabhaengigkeit.html).

Elf stellvertretende Bürgermeister von 1946 bis 1975, davon bewirtschafteten fünf jeweils einen Bauernhof. Mit Erwin Bonnet war 1948 gleich der Ortsobmann der Landwirte zum Zuge gekommen. Die Bauern konnten es sich meist auch zeitlich besser einrichten, schnell a moal uffs Rathaus zu geha. Zudem hatte ein Vize-Schultes doch ein Quäntchen mehr zu sagen als seine übrigen Kollegen. So gesehen stand er immer mit einem Bein im ersten Stock – wenn Allmendinger in Urlaub oder krank war. Eine Besonderheit wartete auf den Vize auch: Er wurde gleichzeitig stellvertretender Standesbeamter und durfte Ehen schließen. Wenn er dies geschickt machte, steigerte das sein Image im Dorf zusätzlich. 

Bitter für Wilhelm Tochtermann, der als vormaliger Vize-Bürgermeister die Amtsgeschäfte am 5. Juli 1975 und damit dem Tag der Zwangseingemeindung formal an Mühlackers Oberbürgermeister Gerhard Knapp übergab. Mit dabei Gemeindepfleger Walter Vogt und die Verwaltungsangestellte Lieselotte Zach.

Bürgermeister-Stellvertreter Wilhelm Tochtermann (links) gratuliert dem scheidenden Verwaltungschef Richard Allmendinger zur Ehrenbürgerwürde der Gemeinde Lienzingen (Mai 1975, aus: Mühlacker Tagblatt)

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