Was es nicht alles gab: Lienzingern impotenten Ziegenbock untergejubelt
Treueprämie für Farren- und Eberhalter Eberhard Pfullinger anno 1969: 100 Mark und ein Geschenkkorb, denn fast 45 Jahre lang waren vor allem die Ställe der Landwirtsfamilie die Luststätten für viele Vierbeiner. Sauen und Rinder. Höchst notwendig in einem Bauerndorf. Das zeigen Zahlen über die Viehhaltung in Lienzingen: 1950 (in Klammer: 1961) Pferde 50 (20), Rinder 420 (477), Schweine 273 (217). Die Statistik wies die Zahlen von Schafen und Ziegen nicht aus (aus: Konrad Dussel, Lienzingen, Altes Haufendorf - moderne Gemeinde, 2016, Verlag Regionalkultur, S. 206).
Bei mehr als hundert landwirtschaftlichen Betrieben im Dorf gehörten deren Anliegen zum festen Teil der Kommunalpolitik, sie schlugen sich in Themen nieder, die heutzutage eher skurril wirken oder ein Schmunzeln abringen. Tiernachwuchs als kommunale Pflichtaufgabe. Noch keine künstliche Besamung gab's, die tierische Weiblichkeit wurde dem Bock, Eber oder Farren - letzterer ein geschlechtsreifes männliches Hausrind - zugetrieben. Für sie alle galt: Allzeit bereit.
In den Lienzinger Geschichte(n): Bock-, Eber- und Farrenhaltung - eine Kommunalaufgabe: mal heiter, mal ernst, mal skurril. Bulle Planer wegen Bösartigkeit abgeschafft, Verletzung beim Liebesakt brachte Farren in den Schlachthof, nichtöffentlicher Streit im Gemeinderat sprach sich im Flecken herum. Mühlacker Bock betörte auch Lienzinger Ziegen-Damen. Dies und weitere Details wie Pfullingers Ställe als tierische Luststätten in der Blog-Serie.
So stehen im Protokoll der
- Gemeinderatssitzung vom 14. April 1948 unter § 6, Wiese für die Bockhaltung, und als § 8, Farrenhaltung,
zwei Mitteilungen des Bürgermeisters:
- Wegen der Verwendung der seitherigen Bockwiese als Sportplatzgelände sei die Frage der Gewinnung eines Ersatzgrundstücks akut geworden. Es solle versucht werden, von dem Pächter Gotthilf Bristle (wahrscheinlich: Brüstle, Anm. d. Verf.), hier, eine von ihm von der Gemeinde gepachtete Wiese im Illinger Tal zurückzugewinnen.
- Eine Farren-Hauptkörung finde am 20. Mai 1948 statt. Zur Vornahme der Farrenschau wurden beauftragt: Ortsobmann Bonnet sowie die Gemeinderäte Häcker und Ross (wahrscheinlich: Roos, Anm. d. Verf.) (STAM, Li B 323, S. 82).
- GR 20. Juli 1957, § 7, Ergebnis der Farrenkörung
Die Farren stehen in guter Pflege, bescheinigte das Staatliche Tierzuchtamt Ludwigsburg bei ihrer Körung am 9. Juli 1957 laut Ratsprotokoll. Der vor zwei Jahren abgekörte Farren Kuno sei wieder in die Zuchtwertklasse II einbezogen worden. Dagegen habe leider der am 14. September 1956 in Herrenberg gekaufte Farren Proteus L 1099/5 wieder abgeschafft werden müssen, da er sich zu seinem Nachteil entwickelt habe. Welcher Art dieser Nachteil war, wird in den Aufzeichnungen über die Sitzung nicht erwähnt (STAM, Li B 325, S.157).
Selbst den Kauf eines Ziegenbockes mussten die Gemeinderäte genehmigen. Das geschah zum Beispiel in der Sitzung am 5. September 1958 (§ 5). Der Kaufpreis: 470 Mark und 25 Pfennige. Bockhalter und Landwirt Artur Benzenhöfer hatte Ende August bei einer Versteigerung in Heilbronn den Bock der Zuchtwertklasse III erstanden, sozusagen der Gemeinde-Bock, dem die Ziegen aus dem Flecken zwecks Nachwuchszeugung zugeführt wurden (STAM, Li B 325, S. 224).
Verpflegungs- und Sprunggeld
Den Ziegenbockhalter entlohnte die Kommune mit Verpflegungsgeld für das Tier und Sprunggeld. Einen neuen Vertrag über die Entlohnung genehmigte der Gemeinderat am 9. November 1951, ebenso eine Vereinbarung mit Farren- und Eberhalter Pfullinger, dem sozusagen als Fressensgeld 360 Mark pro Eber zugebilligt wurden plus 80 Mark Nutzungsentschädigung für 79 ar und 14 qm Wiesen. Da Landwirt Pfullinger den Farren Profoss der Zuchtwertklasse III selbst aufzog, dessen Wert bei der Körung mit 1350 Mark ermittelt wurde, entschädigte ihn die Gemeinde mit einem Viertel des Betrags und somit 337,50 Mark. Worauf noch zurückzukommen sein wird (STAM, Li B 324, S. 103).
Übrigens: Am 16. Juni 1959 verabschiedete der Gemeinderat eine Farrenstallordnung nach einer auf Landesebene erarbeiteten Muster-Ordnung (STAM, Li B 325, S. 270).
- Impotenter Ziegenbock sorgte für Streit mit Zaisersweiher: Gemeinde Lienzingen fühlte sich vom Nachbarn hereingelegt und forderte 300 Mark Schadensersatz
Einen delikaten Fall verhandelte der Gemeinderat am 15. Dezember 1952 gleich unter dem ersten Punkt der Tagesordnung. Der Ziegenbock-Tausch mit Zaisersweiher endete im Streit - denn die Nachbarn hatten ihren impotenten Bock den Lienzingern untergejubelt. Bis dies der Lienzinger Bockhalter bemerkte, war es zu spät. Daraufhin recherchierte er heftig und kam zum Ergebnis: Die machten's mit Absicht. Was blieb, war eine Schadensersatzrechnung, die im Zaisersweiher Rathaus landete. Dem Protokolleintrag zu § 1 von Bürgermeister Richard Allmendinger über die Sitzung, zu der sich drei der acht Gemeinderäte hatten entschuldigen lassen, entbehrt nicht einer gewissen Komik, die sich zur allgemeinen Heiterkeit auswachsen kann. Hier im Original:
Der Ziegenbock musste auf Veranlassung des Tierzuchtamtes Ludwigsburg bei der letzten Körung in Zaisersweiher zur Vermeidung von Inzuchtschäden mit dem der Gemeinde Zaisersweiher ausgetauscht werden. Ein gegenseitiges Aufgeld wurde nicht vereinbart, also gleichauf ausgetauscht. Da der Ziegenbock der Gemeinde Zaisersweiher gekört wurde, musste davon ausgegangen werden, dass der Bock zuchttauglich war. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Annahme nicht der Wirklichkeit entspricht und letzthin angestellte Nachforschungen des hiesigen Bockhalters Artur Benzenhöfer brachten eindeutig den Beweis, dass der Bock bereits im letzten Jahr bei 4 und mehr Sprüngen nicht befruchtete, also bei seinem Eintausch schon zuchtuntauglich war. Seitens des Bockhalters von Zaisersweiher wurde diese Tatsache offensichtlich verschwiegen, denn sonst wäre der Bock abgekört worden. Es liegt demzufolge auf der Hand, dass sich die Gemeinde Zaisersweiher gegenüber der Gemeinde Lienzingen schadensersatzpflichtig gemacht hat, was auch das Tierzuchtamt Ludwigsburg mit Schreiben vom 3.12.1952 eindeutig bestätigte. Eine Zurücknahme des Bocks kommt allerdings nicht mehr in Frage, weshalb der Gemeinderat beschließt, von der Gemeinde Zaisersweiher Schadensersatz in Höhe von 300 Mark zu fordern (STAM, Li B 324, S. 146).
Für Laien: Körung der Farren heißt nichts anderes als die Auswahl junger Stiere zur Zucht. Womit auch dies geklärt wäre.
Eberhard Pfullinger, Landwirt und Chef auf dem Hof an der Ecke von Spindelgasse und heutiger Knittlinger Straße, bot – in offiziellem Auftrag – den Sauen und Kühen ein Stelldichein mit Eber und Bullen zwecks Zeugung von Nachwuchs. Dem tierischen Lustprinzip wurde in seinen Ställen an der Spindelgasse gegen harte Mark gehuldigt. Und das in höchstem kommunalem Auftrag, den die Familie Pfullinger anno 1925 übernommen und nahezu 45 Jahre lang - bis zur Einführung der künstlichen Besamung 1969 - anstandslos erledigt hatte, zuletzt nur noch als Farrenhalter. Und so hieß der Punkt 9 der Tagesordnung für die Gemeinderatssitzung am 28. November 1969: Farrenhaltung – künstliche Besamung – Treueprämie für Farrenhalter Eberhard Pfullinger. Der Dank der Gemeinde laut Ratsbeschluss: 100 Mark und einen Geschenkkorb (STAM, Li B 327, S. 308).
Doch nicht immer gefielen allen im Flecken die Konditionen für Pfullinger. So gab es Knatsch wegen Profoss, dem vom Landwirt selbst aufgezogenen Farren der Klasse II. Der Fleckviehzuchtverband taxierte den Wert des Tiers auf 1400 Mark (eine andere Quelle: 1350 Mark). Die Ratsmitglieder votierten am 26. Oktober 1951 dafür, ihm aus der Gemeindekasse für quasi amtliche Pflichtaufgaben 675 Mark zu ersetzen. Gleichzeitig genehmigten sie, dass er pro Sprung seines Farrens 50 Pfennig verlangen durfte. Bei geheimen Abstimmungen zeigte sich, dass die Tarifgestaltung höchst umstritten war im Ortsparlament. Das war schon die zweite Beratungsrunde zum Thema. Bürgermeister Allmendinger beklagte im Protokoll, die in der Sitzung zuvor vertrauensvoll gehaltene Aussprache soll angeblich zum Teil an die Öffentlichkeit gelangt sein. Dadurch wurde ein Teil des Gemeinderats in ein ungünstiges Licht gestellt, was innerhalb des Gemeinderats eine heftige Auseinandersetzung zeitigte. Alle sieben Ratsmitglieder, die anwesend waren, sprachen sich in einer geheimen Abstimmung für eine Untersuchung dieses Vorganges aus (STAM, Li B 324, S 99 f). Das Pikante: Der Farrenhalter gehörte selbst dem Gemeinderat an, war aber wegen Befangenheit abgetreten.
- Bock, Eber, Farren – die Themen kehrten in schöner Regelmäßigkeit wieder
Am 24. Mai 1957 verlängerte der Gemeinderat den Vertrag mit Bockhalter Artur Benzenhöfer, dessen Hof am Scherbentalweg stand (heute Friedrich-Münch-Straße Nord), um weitere sechs Jahre. Die Konditionen: 220 Mark jährlich aus der Gemeindekasse für Benzenhöfer, die Bockwiese zur Nutzung und erstmalig die Übernahme der gesamten Anschaffungskosten für einen neuen Bock auf die Kommune. Das landwirtschaftliche Anwesen steht heute nicht mehr. Als Kind fühlte ich mich dort zwischen Kühen, Ziegen und Schafen, zwischen Quitten und Äpfeln, zwischen Stall und Obstwiese sehr wohl. Tante Elsa, Frau von Artur und Schwester meiner Mutter, war eine herzensgute Frau, die leider schon 1960 starb (STAM, Li B 325, S. 150).
Auch das gab es. Bulle Planer musste wegen Bösartigkeit 1960 abgeschafft werden. Ihm folgte Peter L 1989/8, von Pfullinger bei der Zuchtviehversteigerung in Herrenberg für 1940 Mark erstanden, zuzüglich 56 Mark Versteigerungs- und Transportkosten. Die Gemeinde übernahm ein Viertel der Ausgaben. Doch gleichzeitig handelte sich Pfullinger eine Rüge ein: Er hatte die zwei für Farrenkäufe zwecks Begutachtung bestimmten Ratsmitglieder nicht beigezogen (STAM, Li B 326, S. 29). Sechs Jahre später ersteigerte Pfullinger, wiederum in Herrenberg, den Farren Page L 6957/4 für 2100 Mark. Diesmal erstattete ihm die Kommune 35 Prozent (STAM, Li B 327, S. 76). Pech für Page: Er zog sich bei einem Liebesakt solche Verletzungen zu, dass er ausrangiert werden musste. Der Schultes schrieb ins Protokoll der Sitzung vom 20. Mai 1966: Die bei der Schlachtung gewonnenen 132 Kilogramm Fleisch waren untauglich zum Genuss von Menschen. Der Farrenhalter kassierte zwar noch 550 Mark, doch ihm blieb ein Schaden – es erstand ein Versicherungsfall (STAM, Li B 327, S. 85).
- Interkommunale Zusammenarbeit bei Eber und Bock
So ein Ratsmitglied lernt viel dazu. Zum Beispiel, dass der 1961 von Pfullinger in Heilbronn erstandene Zuchteber der Klasse II unterm Strich 545,80 Mark kostete. Die Kommune übernahm davon 207,80 Mark, so der Ratsbeschluss vom 20. Februar 1961 (STAM, Li B 326, S. 78). Laut Protokoll der Sitzung vom 20. Mai 1966 musste Eber Ohr Nr. 1922/4 wegen zu erwartender Inzucht abgeschafft werden. Wegen der in Lienzingen zu diesem Zeitpunkt zu geringer Zahl von Zuchtschweinen verzichtete Pfullinger auf die Eberhaltung, die Gemeinde Lienzingen übertrug per 1967 abgeschlossenem Vertrag die Eberhaltung der Stadt Maulbronn, genauer: deren Eberhalter Kurt Dürrstein - wie schon drei Jahre zuvor die Ziegenbockhaltung der Stadt Mühlacker. Erste Beispiele interkommunaler Zusammenarbeit (STAM, Li B 327, S. 85 f). Doch in puncto Eberhaltung war das nicht einfach. Nachdem der Lienzinger Landwirt Herbert Staib einen eigenen Eber mit Deckerlaubnis B im Stall stehen hatte, kündigte Lienzingen auf Ende des Jahres 1970 den Vertrag mit der Klosterstadt, beantragte für den Staib'schen Eber Deckerlaubnis A, zeigte sich einer Kostenbeteiligung nicht abgeneigt. Zumal der Maulbronner Eberhalter nicht von den Sauenhaltern aus Lienzingen aufgesucht werde, wie es in der Niederschrift der Ratssitzung vom 24. Juli 1970 heißt (STAM, Li B 328, S. 36).
War es das erste Anzeichen für die soziokulturelle Verflechtung von Lienzingen mit Mühlacker, mögen Spötter fragen. Vorbote der zwölf Jahre später erfolgten Eingemeindung? Nein! Ein Mangel an Ziegendamen im Dorf - nur noch 13 - führte dazu, dass die Gemeinde einen Partner suchte und mit der Stadt Mühlacker fündig wurde. Am 11. Januar 1963 stimmte der Gemeinderat dem Anschluss an die Bockhaltung Mühlackers zu. Erschwerend bei diesem Entscheid kam hinzu, dass der Lienzinger Ziegenbock eingegangen war (STAM, Li B 326, S. 179).
- Aus durch die künstliche Besamung
Alles hatte ein Ende, auch die von der Gemeinde am längsten aufrecht erhaltene Farrenhaltung. Am 26. Juli 1968 zeichnete sich das Aus ab. Der Bürgermeister berichtete in der Ratssitzung vom Antrag eines Viehhalters, auf die künstliche Besamung umzustellen. Dies sei vordringlich (STAM, Li B 327, S. 225 f). Das Kapitel Eber & Co konnte durch einen Beschluss in der Gemeinderatssitzung vom 19. Dezember 1968 endgültig zugeklappt werden. Das Gremium stimmte mit sieben Stimmen gegen eine, die künstliche Besamung zum 1. November 1969 einzuführen, weshalb der Vertrag mit Bullenhalter Eberhard Pfullinger nicht verlängert wurde. Der Farrenhalter durfte die ihm für diese Zwecke überlassenen landwirtschaftlichen Grundstücke der Gemeinde – gegen Pacht – weiter bewirtschaften. Die einzige Gegenstimme kam von Ratsmitglied Straub. Bei einer Versammlung der Viehhalter drei Wochen zuvor – 26 der 35 nahmen teil – stimmten 20 für die Umstellung auf künstlich (STAM, Li B 327, S. 246). Doch es dauerte noch bis zum 30. November 1970, bis der Gemeinderat den Vertrag mit der Besamungsvereinigung Nordwürttemberg in Birkach genehmigte. Die Kommune verpflichtete sich, bis auf weiteres, die Tierarztkosten von seinerzeit 16,80 Mark je Fall zu übernehmen (STAM, Li B 327, S. 64).
Ein Kapitel der Lienzinger Kommunalpolitik war damit abgeschlossen. Skurril, lustig, ernst, vor allem aber wichtig für ein Dorf mit einer starken Landwirtschaft.
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