Institutionen haben kein Gedächtnis, warnt der Soziologe

Die Testung auf den neuartigen Corona-Virus findet beim Drive-In-Zentrum auf dem Buckenberg direkt am Auto statt

Es geht derzeit nicht nur um unsere Gesundheit. Es geht auch darum, die politische Debatte nicht ganz an Talkshows zu delegieren und sonst sterben zu lassen, schreibt der Autor Steffen Pross.

Die Corona-Krise überlagert alles, schränkt ein, erschwert demokratische Entscheidungsprozesse, unsere  Grundrechte werden, vorsichtig formuliert, strapaziert - und trotzdem: 93 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger befürworten die derzeitigen Kontaktbeschränkungen. Das ist das Ergebnis des am 2. April veröffentlichten ARD-Deutschlandtrends. Wir verzichten derzeit auf zahlreiche Grundrechte und das einigermaßen bereitwillig. Alles wegen unserer Gesundheit, das höchste Gut.

Eine Gratwanderung: Selbst gegen die Ablehnung des Baus eines Hasenstalls gibt es Rechtsmittel, um die Entscheidung der Baurechtsbehörde durch ein unabhängiges Gericht überprüfen zu lassen. Die Einschränkung etwa des Grundrechts auf Bewegungsfreiheit ordnete die Administration an, ohne Beschluss des Parlaments (dem blieb nur die Verabschiedung des Nachtragsetats zur Finanzierung der Maßnahmen gegen wirtschaftliche Nachteile, die aus den Verordnungen für Unternehmen und selbstständige Existenzen erwachsen). Kein Gericht überprüfte die Maßnahmen, auf die sich Kanzlerin und 16 Ministerpräsidenten verständigten, auf ihre Verhältnismäßigkeit.

Andererseits: Wochenlange politische Diskussionen, ohne dass gehandelt wird? Unvorstellbar! Das bei einem aggressiven, unbekannten Virus, gegen den es noch keinen Impfstoff gibt. Und einem Gesundheitssystem, das für die Folgen (noch) nicht gerüstet war. Die Folgen sehen wir in anderen Ländern, deren Regierungschef das Corona-Virus zunächst nicht ernst nahmen  Also: alternativlos dieses rasche und überlegte Handeln. Die Zahlen und deren Entwicklung zeigen, dass die vom überparteilichen  Merkel-Corona-Kabinett (sie und die MPs) angewandte Gegenstrategie erfolgreich sein dürfte. Trotzdem bleibt der bittere Beigeschmack, ohne dass der Erfolg des entschlossenen Handelns geschmälert werden soll.

Nur: Die Einschränkung unserer Freiheit muss auch zügig und restlos zurückgefahren werden. Die Hürden für Lockerungen darf die Regierung nicht immer höher ziehen. Der politische Diskurs darüber ist genauso wichtig wie das Bemühen, die Wirtschaft bald wieder in Gang zu bringen. Und Überlegungen sind dringend notwendig, wie künftig bei einer solchen Katastrophe ein Mindestmaß demokratischer Strukturen funktionsfähig gehalten werden können, neben denen der sowieso schon allgegenwärtigen Administration. Zum Beispiel, indem Gremien rechtlich auch als Videokonferenz - gerade auf Kommunalebene - tagen dürfen, somit handeln können.

Shutdown. Das öffentliche Leben gen Null gefahren. Wie lange noch, was droht? Dazu zwei wichtige Stimmen:

Die gegenwärtige Pandemie fordere unsere Gesellschaft in beispielloser Form heraus und führe zu schwerwiegenden ethischen Konflikten. Der Deutsche Ethikrat befürwortet die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen, auch wenn sie allen Menschen in diesem Land große Opfer abverlangen. Freiheitsbeschränkungen müssen jedoch kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden. Für diesen schwierigen Abwägungsprozess will der Ethikrat mit seiner Ad-hoc-Empfehlung Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise ebenso ethische Orientierungshilfe leisten wie für die im Gesundheitssystem drohenden dramatischen Handlungs- und Entscheidungssituationen. Der Rat fordert eine fundierte Strategie für die transparente und regelmäßige Kommunikation zu ergriffenen Maßnahmen und zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19.

Die Antworten, die der Soziologe Wilhelm Heitmeyer im Interview mit dem Deutschlandfunk gab, stimmten mich nachdenklich, ließen Gefahren erkennen: Kontrollverluste haben auch immer als Reaktion dann diese Eingriffe, sagte der Wissenschaftler. Und auch habe das immer einen autoritären Beiklang. Da müsse man jetzt nun aufpassen, wenn das immer weiter ausgeweitet wird, dass wir dann durchaus in die Nähe eines Überwachungsstaates kämen, und das werde dann gefährlich. Denn Institutionen, politische oder ministeriale Institutionen haben kein Gedächtnis. Das heißt, es dient jetzt zunächst mal zur Machtausweitung, und da muss man aufpassen, dass sich das nicht verfestigt. Wilhelm Heitmeyer beobachtet in der Coronakrise viel Gesellschaftsromantik, ließ bei mir die Alarmglocken läuten. Die Hoffnung, dass Solidarität zu weitreichenden Neuentwicklungen in der gesamten Gesellschaft führe, sei aber naiv und problematisch, sagte er im Dlf.


Corona - die Menschen möchten gut informiert sein, um mitsprechen zu können. Zu den Folgen:

Das Interesse an den gedruckten Medien stieg im Zuge der Corona-Krise deutlich an. Foto: https://pixabay.com

Eine repräsentative Umfrage unter Zeitungslesern ergab hohe Zustimmungswerte zur Berichterstattung über die Coronakrise. Mehr als 4.000 Leser von Regionalzeitungen hat die Zeitungsmarktforschung Gesellschaft (ZMG) zwischen dem 21. und dem 28. März befragt. 84 Prozent von ihnen fühlen sich gut bis sehr gut informiert über Corona und die Auswirkungen. Für 86 Prozent ist die Tageszeitung eine wichtige Orientierungshilfe. Die Berichterstattung ist aus Lesersicht besonders verlässlich (96 Prozent) und aktuell (91 Prozent), bietet verständliches Hintergrundwissen (92 Prozent), berichtet in ausreichendem Umfang aus dem Alltag von Betroffenen und dem Gesundheitssystem (93 Prozent), sortiert übersichtlich die Flut an Informationen (89 Prozent) und hilft mit konkreten Alltagsempfehlungen (85 Prozent).

Vorbei sind also die Zeiten von "Lügenpresse"-Schmährufen und Hasskommentaren. In der Not erkennen die Menschen endlich wieder, was sie am professionellen Journalismus haben, kommentiert Hendrik Zörner das Ergebnis. Womöglich erkennen die Leser, die jetzt in Scharen die Corona-Informationen abrufen, dass die tägliche Zeitung auch nach der Pandemie eine unverzichtbare Informationsquelle ist

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die täglichen Nutzerzahlen der journalistischen Online-Angebote: 91 der 100 reichweitenstärksten Marken lagen über dem Februar, zahllose Anbieter gewannen 50% und mehr hinzu, reihenweise Rekorde wurden aufgestellt. Innerhalb der Top 15 am dicksten im Plus: ntv, Merkur.de, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine.  Weitere extreme Gewinner im März: unter anderem die Passauer Neue Presse auf Platz 47 mit einem Plus von 95,7%, swp.de auf 56 mit einem Zuwachs von 70,0%, das Hamburger Abendblatt auf 64 mit 72,2% mehr täglichen Nutzern.

Heidelberg24, idowa, der Nordkurier, die Freie Presse, die Westdeutsche Zeitung und Börse Online sind durch ihre Zuwächse sogar erstmals überhaupt in die Top 100 eingestiegen.

Das sind die postiven Seiten für unsere Demokratie.

 

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