Fernfahrer mussten nun das gefährliche Lienzinger Adler-Eck nicht mehr fürchten
Nicht nur die Lienzinger atmeten nach vielen Jahren des Wartens und Hoffens auf. Auch den Fernfahrern blieb nun das gefährliche Adler-Eck mitten im Flecken erspart - die Haarnadelkurve an der heutigen Bäckerei Schmid, an der sich die Ortsstraße in zwei Richtungen spaltet: links nach Knittlingen, rechts nach Zaisersweiher. Und auf der es des öfteren krachte. Nach Jahrhunderten querte der immer dichter gewordene Durchgangsverkehr künftig nicht mehr den Ort: Seit 1. November 1951 nimmt die etwa einen Kilometer lange Umgehung den Verkehr auf, die südwestlich parallel zum Ort verläuft.
Die lange Lienzinger Geschichte(n) heute mit visionärem Schultheiß, dem Vertrag von 1940, angedrohtem Steuerstreik, dem verärgerten Bürgermeister, einem hilfreichen Abgeordneten und einem Zeugen für Obstbaum-Existenz, vor allem aber mit einem Jahrhundertprojekt für Lienzingen: Wie es 1951 zur Ortsumgehung kam. Zuvor rollte der Bundesstraßen-Verkehr quer durch das Dorf. In Akten und Ratsprotokollen geblättert (Serie)
Ein Vertrag von 1940 zwischen dem Neubaubüro des Technischen Landesamtes Württembergs in Ludwigsburg und der Gemeinde Lienzingen schuf die Grundlage für das Projekt, das dann aber zunächst kriegsbedingt stecken blieb und erst 1951 vollendet werden konnte. So lange führte die Bundesstraße 35 (vormals Reichsstraße 35) von Illingen her noch wie schon immer über die jetzige Friedenstraße und Knittlinger Straße quer durch das Dorf oben hinaus Richtung Knittlingen. Eine schwere Last!
- "Uralte Verkehrsstraße" - Verbindung an den Main
Auf der Bundesstraße 35 sind aktuell an Werktagen mehr als 10.000 Kraftfahrzeuge unterwegs, davon über 2100 Schwerlaster. Es ist eine wichtige Nord-Süd-Verbindung im Land, auch historisch gesehen. Lienzingen: Seine Lage ist schwerwiegend bestimmt durch die uralte Verkehrsstraße, die sich durch die Ortschaft zieht, schrieb Dr. R. W. Schmidt, Konservator beim Württembergischen Landesamt für Denkmalpflege in Stuttgart, im Jahr 1927 in "Lienzingen, ein Dorfbild im Unterland". Schon die Römer schätzten diese Strecke, so Schmidt weiter. Die Straße war vom frühen Mittelalter bis in die neuere Zeit eine der wichtigsten und beliebtesten Verbindungslinien von Süddeutschland an den Main (in: Schwäbisches Heimatbuch, Stuttgart, 1927, S. 112-126).
Lienzingen litt gewaltig unter dem Durchgangsverkehr. Das Dorf zählte damals rund 750 Einwohner. Bürgermeister Karl Brodbeck, seit 1920 im Amt, forderte in einem Schreiben vom 29. August 1928 an das Straßen- und Wasserbauamt Ludwigsburg eine "Auto-Umgehungsstraße". Der Verkehr habe sich in den vergangenen Jahren sehr gesteigert und werde sich noch viel, viel mehr steigern. Der Verkehr, insbesondere an der scharfen Kurve am Gasthaus Adler, sei direkt unsicherer und gefährlicher geworden. Wenn einmal Menschenleben zu beklagen sind, ist es zu spät! Zudem würden durch die schweren Lastwagen die Häuser derart erschüttert, dass an diesen Risse entstünden.
- Scharfe "Adler"-Kurve nervte nicht nur die Lastwagenfahrer
Doch die Ludwigsburger Behörde wiegelte in ihrer Antwort zunächst ab. Zwar räumte sie die Notwendigkeit einer Verbesserung an der scharfen Kurve am "Adler" ein, doch sei dies in erster Linie eine Sache der Gemeinde. Ihrer Bitte, das Bauamt möge einen Entwurf für eine Umgehungsstraße (...) aufstellen und dem Schultheißenamt zur Kenntnis unterbreiten, kann das Bauamt mit dem besten Willen nicht entsprechen. Noch über Monate hinaus sei sein technisches Personal mit anderen dringenden Aufgaben vollauf beschäftigt. Zudem vermisste das Amt eine Aussage der Gemeinde, sich an den Kosten der Ausarbeitung des Entwurfs zu beteiligen. Schließlich gebe es auch keinen Auftrag des Ministeriums für eine solche Planung. Allerdings riet der Verfasser der Antwort, Binder, der Kommune, die allernötigsten und unaufschiebbaren Vorarbeiten schleunigst in Angriff zu nehmen und bot an, dem Schultheißen einen älteren, zurzeit sofort verfügbaren Regierungsbaumeister zu benennen, der bereit sei, vermutlich für 10 bis 15 Reichsmark pro Tag diese Vorarbeiten zu erledigen. Natürlich alles auf Kosten der Gemeinde. Er wolle gerne nach dort kommen und alles Weitere mit den Herren Gemeindevertretern besprechen (Stadtarchiv Mühlacker, STAM Li A 97).
Jedenfalls erhielt die Hauptstraße 1930 eine für die damaligen Verhältnisse vorzügliche Straßendecke. Von den 80.000 Mark Baukosten übernahm der Staat 50.000 Mark, weil sie vom Durchgangsverkehr der Reichsstraße 35 stark belastet war (Friedrich Wißmann in: Das Ortsbuch von Lienzingen, 1970, Walter-Verlag, S. 322).
- Plan für Lienzingens Umgehung im Juni 1939 fertig
Neun Jahre später schien die Umgehungsstraße doch noch Realität zu werden. Mit Datum vom 21. Juni 1939 legte das Neubaubüro des Technischen Landesamtes in Ludwigsburg den Entwurf eines Planes über den Ausbau der Reichsstraße 35 zwischen Illingen und der württembergischen Landesgrenze bei Knittlingen vor. Ein Teilstück: die künftige Umgehung Lienzingens. Sie sollte endlich verwirklicht werden. Und so beschrieben die Planer ihren Trassenverlauf: Sie verlässt die bestehende Reichsstraße am Beginn der Rechtskrümmung vor der Einmündung der Landstraße Erster Ordnung Nr. 134 von Mühlacker, führt rund 100 Meter südlich der Frauenkirche vorbei und erreicht die bestehende Reichsstraße wieder bei Kilometer 32 westlich von Lienzingen, ist rund einen Kilometer lang.
Der Plan sah auch den Ausbau der bestehenden Reichsstraße 35 auf den sich anschließenden Strecken in Richtung Illingen beziehungsweise Knittlingen vor, außerdem sollte die Landstraße Nr. 134 von Mühlacker nach Lienzingen die Umgehungsstraße mit einer Unterführung kreuzen und eine besondere Auffahrt auf die Umgehungsstraße in Richtung Maulbronn erhalten.
- Vertrag genehmigt per Verfügung vom 20. März 1940 des Bürgermeisters
Das Neubaubüro präsentierte den Anrainer-Gemeinden Vereinbarungen, so am 20. März 1940 der Gemeinde Lienzingen mit einem an Deutlichkeit nichts zu wünschen lassenden letzten Absatz: Diese Vereinbarung ist für die Gemeinde sofort bindend, wogegen sich das Neubaubüro die Genehmigung des Technischen Landesamtes vorbehält. Für die Kommune unterschrieb den dreiseitigen Vertrag Bürgermeister Brodbeck. Das Papier befindet sich im Protokoll des Gemeinderats von Lienzingen, allerdings ohne Ratsbeschluss, aber mit einer angefügten Seite, die die Überschrift trägt: Verfügung vom 20. März 1940 - der Bürgermeister. Er verfügte, mit der Vereinbarung einverstanden zu sein, sie zu unterzeichnen und sie als Seiten 490 bis 493 dem Gemeinderatsprotokoll beizufügen.
- Gemeinde musste Fläche kostenlos bereitstellen
Keinen Spielraum räumte die Behörde den Gemeinden ein: Die Bedingungen des Vertrags mussten akzeptiert werden. Danach hatte die Kommune die Flächen, die zum Bau der Straße einschließlich Nebenanlagen und Anschlüssen benötigt wurden und die ihr gehörten, kostenlos und lastenfrei zur Verfügung zu stellen. Parallelfeldwege zur Reichsstraße legte das Neubaubüro an, bezahlen musste sie die Kommune einschließlich der Kosten des notwendigen Grunderwerbs von Privaten. Für den Eingriff in die Markung durch Erschließungsanlagen als Folge des Baues der Fernstraße gab es keine Entschädigung (STAM,GR Li B 322, S. 490 ff). Doch die Passage verhinderte Jahre später nicht einen heftigen Streit ums Geld.
Die tatsächlich 1940 begonnenen Bauarbeiten an der Umgehungsstraße von Lienzingen wurden kriegsbedingt bald wieder eingestellt. Wann wie viel Straße gebaut wurde, ergibt sich aus den Akten der Gemeinde und den Protokollen des Gemeinderates nicht. Jedenfalls variierten in der Nachkriegszeit zu diesem Thema die Formulierungen der Tagesordnungspunkte des demokratisch gewählten Lienzinger Gemeinderates - von 1949 bis Mitte der Fünfziger Jahre: "Errichtung der Umgehungsstraße" (15. Juli 1949), "Verbreiterung der Bundesstraße 35" (24. August 1951) oder die Kombination "Umgehungsstraße - Verbreiterung der Bundesstraße 35" (18. April 1955). Genau genommen waren es zwei Projekte, nämlich die Umgehung als neuer Teil und im Anschluss die Verbreiterung der bestehenden B35.
- Otto Schneider im Jahr 1946: Kein Lienzinger ist sicher, wann er überfahren wird
Lieber Jakob, schrieb am 27. Juli 1946 Dr.-Ing. Otto Schneider dem Lienzinger Bürgermeister Jakob Straub. In einem einseitigen Brief Betreff: Umgehungsstr. berichtet Schneider – Adresse: Stuttgart, Danneckerstraße 46, C (Fernsprecher 91126) – von einem Gespräch zwei Tage zuvor mit Oberbaurat Kellermann, welcher die Lienzinger Umgehungsstraße bearbeite, in den Räumen des Technischen Landesamtes im Schloss Ludwigsburg. Kaum hatte ich gesagt, dass ich wegen der Lienzinger Umgehungsstraße ihn sprechen wolle, als er mich unterbrach und sagte, es sei kein Geld da, keine Arbeiter und noch viel wichtigere Sachen liegen vor, auch habe die Reparatur der Straße von Knittlingen bis Enzweihingen (samt Notbrücke in Enzweihingen) 400.000 M gekostet. Schneider, der aus Lienzingen stammte, schrieb, im Verlauf einer Stunde habe er den Lienzinger Standpunkt klargelegt. Ich sagte ihm, dass kein Lienzinger sicher sei, wann er überfahren werde und während der Ernte sei es noch schlimmer. Am meisten Eindruck machte es, als ich betonte, dass sich vielleicht auch die amerikanische Militärverwaltung um die Sache kümmern könne, wenn noch weitere Unglücksfälle oder Todesfälle von amerikanischen Soldaten vorkommen. Ich sagte ihm auch, dass die Erdarbeiten fast fertig und viele Vorlagesteine am Platze seien, worüber er nicht orientiert war.
Otto Schneider glaubte, bei seinem Gesprächspartner einen Sinneswandel bewirkt zu haben. Jedenfalls habe ihm Kellermann versichert, die Straße in Lienzingen zu besichtigen und er nun den Eindruck habe, dass es sich um die vordringlichste Aufgabe in dieser Gegend handle. Zunächst solle die Autobahn bei Pforzheim instandgesetzt werden, wenn dies aber nicht geschehe, dann solle nach seiner Ansicht dafür die Lienzinger Umgehungsstraße in Angriff genommen werden, vielleicht sogar neben der Autobahn her. Ich teile Dir dieses mit, damit Du im Bilde bist, wenn Dich Herr Oberbaurat Kellermann besucht, schrieb abschließend Dein Otto Schneider dem Lienzinger Bürgermeister Jakob Straub mit freundlichen Grüßen (STAM, Li A 102).
- Einen Achtzeiler an das Technische Landesamt nach einem schweren Unfall
Ob und gegebenenfalls wann Kellermann dem Schultes einen Besuch abstattete, ist den im Stadtarchiv Mühlacker aufbewahrten Akten nicht zu entnehmen. Jedenfalls informierte Straub-Nachfolger Richard Allmendinger in einem achtzeiligen Brief das Technische Landesamt in Ludwigsburg am 18. März 1949 über einen schweren Unfall auf der Reichsstraße 35 durch Lienzingen an der scharfen Kurve im Ort. In der Nacht vom 14. auf den 15. März 1949 sei ein Fernlastzug auf die Gebäude des Adlerwirts, des Wagners Wolf und des Landwirts Geiger gestoßen, habe Schäden an den Gebäuden verursacht. Er mahnte, die angefangene Umgehungsstraße sobald als möglich auszubauen. Schon am 5. Juli 1948 hatte Allmendinger schriftlich an die Behörde appelliert (in einem Fünf-Zeiler), Vorbereitungen zur Fertigstellung der Umgehung zu treffen, denn nach der Geldneuordnung drohe eine Arbeitslosigkeit, die für die Fertigstellung erforderlichen Arbeitskräfte dürften seiner Meinung nach dann zur Verfügung stehen (STAM, Li A 102).
- Weitere Kaufverträge dann nach Kriegsende
Das Ortsparlament genehmigte erstmals nach Kriegsende in seiner Sitzung vom 5. Juli 1949 vier Verträge der nun zuständigen Straßen- und Wasserbauverwaltung Ludwigsburg mit Lienzinger Bürgern über Grunderwerb für die Umgehungsstraße. Allesamt zwischen 17 und 29 Quadratmeter kleine Flächen, mit einer Preisspanne von 4,20 bis 8,50 Reichsmark je Quadratmeter (STAM, Li B 323, S.177).
Die nunmehr erfolgte Geldneuordnung werde wohl in absehbarer Zeit eine Arbeitslosigkeit zur Folge haben, steht im Protokoll der Ratssitzung am 1. Juli 1948. Das württembergisch-badische Innenministerium appellierte in einem Erlass vom 12. Juni 1948 an die Kommunen, sich zu wappnen und rechtzeitig „nötigenfalls“ geeignete Notstandsarbeiten zu melden. Einer der zwei Vorschläge des Ratskollegiums: Die in den Kriegsjahren eingestellten Bauarbeiten an der Umgehungsstraße für Lienzingen sollten wieder aufgenommen werden. Dadurch würde nun endlich die sehr gefährliche rechtwinklige Kurve im Dorf wegfallen und die bei Glatteis sehr störende Steigung in Richtung Maulbronn erreicht werden (STAM, Li B 323, S. 95).
- Schultes-Brief an den Esslinger OB - Hilferuf an den Landtag
Es waren die ersten Anläufe in der Nachkriegszeit. Vor allem Bürgermeister Richard Allmendinger befeuerte das Thema Ortsumgehung. Er unterstützte eine Initiative von Anrainer-Kommunen von B10 und B35, die der Esslinger Oberbürgermeister Dr. Dieter Roser anführte. Sie beklagten in einer im März 1950 beim Landtag eingelegten Petition die Überlastung der Ortsdurchfahrten an den beiden Bundesstraßen auf der Linie Bruchsal-Stuttgart-Ulm. Weil der Schwerlastverkehr auf diesen beiden Bundesstraßen ständig zunehme, solle der Landtag Württemberg-Baden nur solchen Fernlastzügen die Benutzung erlauben, deren Betriebe ihren Sitz an einer der beiden Bundesstraßen hätten. Zudem solle diese Hauptverkehrsader des Landes in vollem Umfange ausgebaut und alle erforderlichen Ortsumfahrungen angelegt werden. Dem schloss sich der Lienzinger Gemeinderat am 3. März 1950 an, wobei er noch speziell verlangte, den Ort mit der B35 zu umrunden (STAM, Li B 324, S. 12).
Allmendinger hatte am 31. August 1950 in einem eng beschriebenen und mit handschriftlichen Zusätzen versehenen Bief an Roser - auf einer einzigen Seite - ganz penibel die Verkehrsprobleme seines Ortes beklagt, sich gleichzeitig entschuldigt, nicht an einer vom Esslinger OB organisierten Tagung zum "Straßenfernverkehr" Mitte September teilnehmen zu können (STAM Li A 96).
- 1950: Verkehrsdichte als unerträglich beklagt
Seine Punkte im Brief waren gleich wie jene in seinem Sachvortrag vor dem Lienzinger Gemeinderat am 3. März 1950. Leider sei der 1940 begonnene Bau der Umgehungsstraße wegen der damaligen zeitbedingten Kriegsverhältnisse nicht fertiggestellt worden. Der Fernlastverkehr habe sich aber in der Zwischenzeit weit mehr verschärft. Die eingetretene Verkehrsdichte werde allmählich für den sonst ruhigen Verlauf der ländlichen Gemeinde unerträglich. Der Schultes verwies ebenfalls auf das gefährliche Adler-Eck, sah die Sicherheit der Einwohner gefährdet, insbesondere die der Kinder. Wie schon 1928 Karl Brodbeck, einer seiner Vorgänger, beklagte auch er Gefahren für die Standsicherheit der an der Ortsdurchfahrt stehenden 300 Jahre alten Häuser durch Erschütterungen, wenn die Schwerlaster vorbei donnern (STAM, Li B 324, S. 12). Drei Wochen später bekräftigten die Bürgervertreter die Forderungen an den Landtag (STAM, Li B 324, S. 16).
Das Ziel konnte relativ rasch erreicht werden: Mit dem Ausbau der Bundesstraße ist nunmehr begonnen worden, schrieb Bürgermeister Allmendinger am 21. Februar 1951 in einer Bekanntmachung, die Amtsdiener Wilhelm Scheck am selben Tag "ausschellte" und in den Anschlagkasten am Rathaus hängte. Obstbäume stünden den Arbeiten im Weg und müssten raschestens gefällt werden, so der weitere Teil der amtlichen Nachricht.
- Flurschäden durch Bauarbeiten: Gemeinderat bildet Kommission und die rückt sonntags aus
Wenn von dato an der Punkt Verbreiterung der B35 auf der Tagesordnung des Rates der inzwischen 1000 Einwohner zählenden Kommune stand, bedeutete dies meist Ärger. Am 24. August 1951 bildete das Gremium eine Kommission, um die durch die Straßenbauarbeiten entstandenen Flurschäden zu begutachten. Ihr gehörten sechs Ratsmitglieder an: Aichelberger, Brüstle, Bonnet, Häcker, Pfullinger und Roos. Sie sollten auch an Ort und Stelle prüfen, ob die notwendig gewordenen neuen Feldwege zweckmäßig angelegt wurden (STAM, Li B 324, S. 88). Die Kommission nahm ihre Aufgabe sehr ernst, machte sich an einem Sonntagvormittag um 9 Uhr auf und schätzte die Schäden - vor allem Ernteausfall - von gut 40 Besitzern landwirtschaftlicher Grundstücke auf 1355 Mark, die die Gemeinde am 29. August 1951 brieflich von der Baufirma Polensky & Zöllner anforderte. Doch diese wollte nur ein Viertel des Betrags erstatten und drohte, falls die Kommune weiter auf ihrer Forderung bestünde, amtliche Schadensschätzer einzusetzen. In der Ratssitzung vom 9. November 1951 akzeptierte das Gremium zähneknirschend die 25 Prozent (STAM, Li B 324, S. 102). Just bei Polensky & Zöllner hatte extra für dieses Projekt mein Vater Johann (1899-1964) als Arbeiter angeheuert. Er lebte seit 1950 in Lienzingen. Vier Monate vor meiner Geburt im Novembert 1950 hatte er meine Mutter Emilie geheiratet. Unsere kleine Familie wohnte seinerzeit noch an der stark befahrenen Durchgangsstraße im heutigen Haus Friedensstraße 39 beengt unterm Dach, aber sie profitierte deshalb auch von der Entlastung durch die B35-Umgehung.
Mit der Inbetriebnahme der Umgehung gingen die bisherigen innerörtlichen Abschnitte der B 35 in die sogenannte Straßenbaulast der Gemeinde über, und zwar am 5. November 1951 Null Uhr. Der Gemeinderat segnete drei Tage später die schriftliche Vereinbarung ab, die der Bürgermeister mit dem Straßen- und Wasserbauamt Besigheim am 2. November 1951 abgeschlossen hatte (STAM, Li B 324, S. 102). Doch bei der Zusammenkunft des Ortsparlamentes am 22. November 1951 legten die Bürgervertreter eine Kehrtwende hin. Sie beauftragten den Bürgermeister, mit der Besigheimer Behörde nochmals zu verhandeln. Da auf der Straße ab "Adler" bis zur B 35 (heute Knittlinger Straße) auch Postomnibusse verkehrten sowie Kraftfahrzeuge, die von Zaisersweiher nach Schmie wollten, forderten die Lienzinger von der zuständigen staatlichen Stelle, sich mindestens teilweise an den Unterhaltskosten zu beteiligen (STAM, Li B 324, S. 105).
- Dem Bürgermeister mit Zwangsvollstreckung gedroht
Damit begann ein zähes Ringen. Das Straßen- und Wasserbauamt lehnte die Forderung am 13. Dezember 1952 strikt ab, da der Vertrag von 1940 rechtsgültig sei und darin dies wie jetzt vereinbart geregelt worden se. Doch der Bürgermeister ließ nicht locker, wandte sich an das Landratsamt Vaihingen und argumentierte, dieser Abschnitt sei keine reine Ortsstraße, sondern trage den Charakter einer Kreisstraße. Der Gemeinderat nahm am 15. Januar 1953 zustimmend Kenntnis (STAM, Li B 324, S. 151).
Nachdem sich in der Sache nichts bewegte, behielt der Bürgermeister kurzerhand Geld ein, überwies nur 125 Mark statt 158,65 Mark als Anteil der Kommune an den Unterhaltskosten für diesen Streckenabschnitt. Das Technische Landesamt drohte deshalb am 4.Oktober 1952 mit weiteren Schritten, da die Gemeinde auf Mahnungen nicht reagiere. Schließlich drohten die Landesbehörden mit Zwangsvollstreckung. Letztlich siegten die Lienzinger Rebellen: Der Landkreis Vaihingen übernahm am 1. Januar 1963 für den Abschnitt zwischen "Adler" und Einmündung in die Bundesstraße 35 die Straßenbaulast. Allmendinger teilte das in der Sitzung am 4. Oktober 1963 mit. Der Gemeinderat nimmt mit Befriedigung davon Kenntnis, steht lapidar im Protokoll (STAM, Li A 95 und Li B 326, S. 229). Heute ist dies deshalb die Kreisstraße 4512.
- Ein Fall für Bonn - Allmendinger schreibt Bausch
Weitaus mehr beschäftigte vor allem Bürgermeister Allmendinger die ausstehende Zahlung der Entschädigungen für die Inanspruchnahme privater Grundstücke zur Verbreiterung der B35. Ein Minenfeld. Einen Hilferuf schickte er dem Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Leonberg-Vaihingen, Paul Bausch (CDU). Der Politiker aus Korntal brachte das Thema im Haushaltsausschuss des Bundestags vor und schaltete auch das Bundesverkehrsministerium ein.
Doch zunächst ging trotzdem nichts, so dass der Schultes in einem Brief an Bausch am 30. Dezember 1952 damit drohte, die Grundstückseigentümer würden in einen allgemeinen Steuerstreik treten, wenn das Geld nicht bis zum 1. Februar 1953 überwiesen sei. Das fruchtete offenbar. Wie Allmendinger in der Ratssitzung vom 15. Januar 1953 informierte, werde mit der Auszahlung in der folgenden Woche begonnen (STAM, Li B 324, S. 150). Aber der Bund hielt den Termin nicht ein.
- Die Sache mit den Obstbäumen - Schreinermeister bringt Zeuge bei
Und dann war da noch die Sache mit den Obstbäumen. Am 21. November 1950 schrieb der Schultes dazu dem Technischen Landesamt in Ludwigsburg einen ersten Brief. Eine Anzahl Grundstückseigentümer fordere für nach dem Vertrag von 1940 abgetretene Flächen sowie für gefällte Obstbäume eine Entschädigung, soweit dies bisher nicht erfolgt sei, und bestehe zudem darauf, dass diese im Verhältnis eins zu eins ausbezahlt werde. Bei der vorausgegangenen Währungsreform gab es eine Deutsche Mark für zehn Reichsmark. Strikt lehnte das Landesamt die Lienzinger Forderung in einer Antwort am 12. Januar 1951 ab.
Ein exemplarischer Fall im Obstbäume-Streit: Schreinermeister Friedrich Deegler sagte, nach dem am 7. März 1940 mit dem Technischen Landesamt abgeschlossenen Kaufvertrag für zum Straßenbau notwendige Flächen habe er im November 1940 eine Abschlagszahlung von 100 Reichsmark erhalten. Ein auf dem Grundstück gestandener Obstbaum sei jedoch nicht entschädigt worden. Das Landesamt sagte die Auszahlung des Restkaufpreises nach Vorliegen der neuen Katastermessurkunde zu, verlangte aber, die Existenz des Obstbaumes durch den Gemeindebaumwart oder einen anderen Zeugen nachweisen zu lassen. Deegler konnte dies und so bestätigte Baumwart und Landwirt Georg Geiger am 22. September 1951 im Rathaus mit seiner Unterschrift, dass auf der abgetretenen Teilfläche ein Apfelbaum gestanden habe, der 45 Mark wert gewesen sei (STAM, Li A 96).
Allmendinger ließ am 16. Februar 1952 das Technische Landesamt wissen, die betroffenen Grundstückseigentümer, die wegen der Verbreiterung der Bundesstraße 35 ihre Bäume entfernen mussten, ließen sich wegen der Entschädigung nicht mehr auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Ich möchte daher wiederholt bitten, die Auszahlung der Beträge unverzüglich zu veranlassen (STAM , Li A 95).
- Lienzinger Eigentümer sauer auf den Bund - Mit Steuerstreik gedroht
Zurück zum Dauer-Ärgernis Entschädigung: Den ersten Brief dazu aus dem Lienzinger Rathaus erhielt der Bundestagsabgeordnete Bausch Anfang Oktober 1952. Bei der Verbreiterung der B35 hätten manche Bürger ihren gesamten Obstbaumbestand verloren, schrieb Allmendinger. Trotz
wiederholter Mahnungen weigere sich das Technische Landesamt, die Entschädigung für die abgetretenen Grundstücksflächen und die abgesägten Obstbäume auszubezahlen, weil der Bund als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches sich noch nicht verpflichtet habe, Forderungen an das frühere Reich zu übernehmen. Jedoch: Basis war der Vertrag zwischen der Gemeinde und dem Landesamt aus dem Jahr 1940. Nach Angaben des Bürgermeisters handelte es sich um rund 6500 Mark. Ein Teil der Grundeigentümer verrechne ihre Forderung an den Bund mit ihrer Grundsteuer, weshalb der Gemeinde nun etwa 4000 Mark fehlen würden, beklagte der Schultes. Die Gemeinde könne nicht so rücksichtslos die Steuern eintreiben wie es der Fiskus mache. Das Finanzamt frage nach derartigen Einwendungen überhaupt nichts.
Diejenigen, die Flächen für den Straßenbau abgetreten hatten, warteten noch im Juni 1953 auf die Auszahlung der Gelder. Dies hätte angeblich bis zum 31. März 1953 erfolgen sollen (Schreiben vom 3. Februar 1953 von MdB Bausch an den Bürgermeister). Zwar floss die Entschädigung für die Obstbäume, jedoch nicht für den Grund und Boden. Allmendinger hatte sich schon am 30. Dezember 1952 wieder an den Bundestagsabgeordneten Bausch gewandt, der auf Ministerialdirektor Dr. Kunde vom Bundesverkehrsministerium zuging. Der Bürgermeister pflegte nicht die diplomatisch klingenden Formulierungen, sondern schrieb dem CDU-Politiker, es wäre nun an der Zeit, dass die zuständigen staatlichen Stellen diese alte Angelegenheit bereinigen, wenn der Staat nicht ganz das Vertrauen seines Volkes verlieren wolle. Bausch schloss sich in einem Brief vom 13. Juni 1953 an Kunde dieser Meinung an und legte nach: Man hat dem nationalsozialistischen Staat vorgeworfen, dass er rücksichtslos das Eigentum der Bürger mit Beschlag belegt hat, ohne eine Entschädigung dafür zu bezahlen. Es wäre aber eine Schande für die Demokratie, wenn sie ebenso verfahren würde.
- 1953 gab es dann doch noch einen 80-Prozent-Abschlag
Der Bürgermeister: Die betreffenden Grundstückseigentümer wollten, falls bis zum 1. Februar 1953 keine befriedigende Lösung eingetreten sei, ihre Forderung mit Steuerzahlungen beim Finanzamt verrechnen und nötigenfalls in einen allgemeinen Steuerstreik treten. Bis zum Herbst 1953 hatte sich die Lage entspannt. Die Eigentümer hatten 80 Prozent als Abschlagszahlung erhalten. Den Rest gebe es nach Fertigstellung der Straßenmessurkunden, teilte des Bundesverkehrsminsterium Ende September 1953 dem Abgeordneten Bausch mit, der mit Beharrlichkeit am Thema dran geblieben war (STAM, Li A 95).
Streit in einer anderen verzwickten Sache: Die Gemeinde weigerte sich, für die Parallelfeldwege zur B 35 die Grunderwerbskosten in Höhe von 1437,80 Mark zu bezahlen (Bescheid des Straßenbauamtes Besigheim vom 23. Oktober 1953). Aber eigentlich ging es nur um 476 Mark, die das RP an Private für den Verlust von Obstbäumen berappt hatte und die ihm die Gemeinde ersetzen sollte. Auch nach einer Aufforderung durchs Regierungspräsidium (RP) Stuttgart vom 5. Oktober 1954 blieben Rat und Bürgermeister stur, sie missachteten den Bescheid des Straßenbauamtes Besigheim aus dem Jahr zuvor. Das Regierungspräsidium setzte ihnen eine Frist bis 15. Oktober 1954. Allmendinger hatte Ende Januar 1954 das Landratsamt Vaihingen an der Enz als Rechtsaufsichtsbehörde um Prüfung des Falles gebeten. Die Meinungsverschiedenheit war klar: Das RP stützte sich auf den Vertrag von 1940, wonach das Neubaubüro die Parallelwege zwar baulich anlege, die Kosten einschließlich Grunderwerb von Privaten auf der gesamten Markung jedoch von der
Kommune zu tragen seien. Ja sagten die Lienzinger, aber nur für die Umgehungsstraße, nicht für die Verbreiterung der B35 auf den anschließenden Strecken, auf die ein Anteil von 476 Mark entfiel (STAM, Li A 96). Der Schultes deutete das nahende Einlenken an (STAM, Li A 95).
- In gewissen Fällen würde dies unliebsame Folgen mit sich bringen
Am 18. April 1955 stand die Schlussabrechnung auf der Tagesordnung. An die vormaligen Grundstückseigentümer mussten noch 264,20 Mark ausbezahlt werden, die Kommune hatte für den Erwerb von Zufahrtswegen zur Umgehungsstraße 256,20 Mark zu überweisen. Kummer bereiteten jene 382,17 Mark, die private Grundstückseigentümer dem Staat zurückerstatten mussten. Diese Beträge einzusammeln sei schwierig, berichtete der Bürgermeister. Teilweise seien die früheren Eigentümer inzwischen gestorben und die Erben weigerten sich, dafür in ihren Geldbeutel zu greifen. Daraufhin lehnte der Gemeinderat das Stellvertreter-Geschäft für den Staat ab: Der Gemeindeverwaltung fehle es an der nötigen Zeit. Allmendinger ergänzte, in gewissen Fällen würde dies unliebsame Folgen mit sich bringen (STAM, Li B 325, S. 19).
Von einer Einweihungsfeier für Lienzingens Umgehung steht nichts in den Akten. Und in der Pforzheimer Zeitung vom 2. November 1951 findet sich gerade mal ein 3-Zeiler. Heutzutage ginge nichts unter einer ganzen Seite mit großen Fotos. Inzwischen rollen auf der Ortsdurchfahrt Lienzingen täglich immerhin rund 8300 Fahrzeuge. Man stelle sich vor, die 10.000 Fahrzeuge von der B35 kämen hinzu. Ein Chaos, trotz inzwischen leicht entschärftem "Adler-/Bäckerei-Eck"! Die Umgehung - für das Dorf ein Jahrhundertprojekt, das die Lienzinger buchstäblich aufatmen ließ. Allerdings trübt die Tendenz nach oben bei der aktuellen Verkehrsbelastung die immer noch währende Freude.
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