Mittelschule Mühlacker auch für begabte junge Lienzinger: Gemeinde muss pro Schüler und Jahr 150 Mark der Stadt bezahlen

Als Nachbargemeinden noch einen Antrag stellen mussten, um Kinder auf die Mittelschule in Mühlacker schicken zu dürfen - für maximal 150 Mark pro Schüler und Jahr, zu bezahlen vom Rathaus. Lienzinger Ratsprotokolle von 1960 erinnern an einen Weg, der aber längst passé ist und inzwischen als undenkbar gilt. Die Mittelschule ist die heutige Mörike-Realschule. Diesmal  lokale Schulgeschichten, die auch Lienzinger Geschichte(n) sind.

Das Mittelzentrum war bereit, die Vorreiterrolle im Kreis Vaihingen/Enz zu übernehmen, schreiben Wolfgang Schmidt und Hans-Joachim Blum in der Rückschau. Das Staatliche Schulamt Mühlacker unterstützte  die Absicht der Stadt unter Bürgermeister Erich Fuchslocher, die bestehende Lücke zwischen Volksschule und Gymnasium in Mühlacker zu schließen, steht in der Festschrift zum 50-Jahr-Jubiläum der Mörike-Realschule.

Zuerst Begabtenklasse

Diese Geschichte  begann 1952 mit einer Begabtenklasse an der Volksschule Lindach. Zwei Jahre später genehmigte das Kultusministerium einen Mittelschulzug, der jedoch bis 1957/58 nur bis zur zuerst achten, dann neunten Klasse reichte. Die noch bis zur Mittleren Reife notwendige neunte und zehnte Klasse mussten in Ludwigsburg absolviert werden. 1962 billigte das Land eine selbstständige Mittelschule (seit 1967 mit der Bezeichnung Realschule). 12 Klassen und 397 Schüler stark,  bezog sie  1964 den Neubau an der Lindachstraße ("50 Jahre Mörike-Realschule Mühlacker", herausgegeben von der Schule selbst, Juli 2012, S. 14f).

Laut Statistik zum Haushaltsplan 2020 der Stadt Mühlacker besuchen aktuell 702 junge Menschen die Realschule - eine Zahl, die immer noch weit entfernt ist vom Rekord des Schuljahres 1977/78 mit 1015 Schülern. 1977 zog der damalige Mühlacker Bürgermeister Adolf Dumitsch, der gerade den ortsabwesenden Oberbürgermeister Gerhard Knapp vertrat, die Notbremse und ordnete an, Kinder aus Wiernsheim abzuweisen. Sehr zum Ärger des Gemeinderats von Wiernsheim, aber nicht minder auch von Mühlacker sowie des OB, der die Anweisung mit der Bemerkung kassierte, Mühlacker sei stolze Schulstadt, zudem schaffe die Schule bei den jungen Menschen eine auch emotionale Nähe zur Standortkommune. Die Leute kämen später eher hierher und stärkten dabei die Umsätze von Handel, Gewerbe & Co. Heute würde es einen Shitstorm genannt, was über den Beigeordneten niederging.

Auf Stadtkosten auch für die Nachbarn

Zwei Gebäude, ein Gang

Denn zur kommunalpolitischen Philosophie der drei Gemeinderatsfraktionen von CDU, SPD und FW gehörte es, auf Stadtkosten auch für die Nachbarn den notwendigen Raum für die weiterführenden Schulen zu schaffen. Also beschlossen die Stadträte, einen Pavillon mit sechs Klassenzimmern auf der Freifläche neben der Grundschule aufstellen zu lassen und eine Außenklasse in der Grundschule Heidenwäldle einzurichten. Alle atmeten auf: Der Engpass war weg! Das zunächst nicht für diesen Zweck eingeplante Geld der Stadt auch.

Seitdem ähnelt es einem Tabu, an dem nicht gerüttelt wird, zumindest bis jetzt nicht. Die Umlandgemeinden werden nicht zur Kasse gebeten. Denn hat eine Schule einen entsprechenden Anteil von auswärtigen Schülern, leistet das Land bei Investitionen einen höheren Zuschuss. Das fließt auch in die Sachkostenbeiträge ein, die via Land aus dem Finanzausgleichstopf jährlich überwiesen werden. 2020 für Mühlacker 2,15 Millionen Euro, davon 833.000 Euro fürs Theodor-Heuss-Gymnasium, 678.000 Euro für die Realschule, 330.000 Euro für die Gemeinschaftsschule Schillerschule und 304.000 Euro für die Uhland-Förderschule.

Lienzinger Geschichte(n)

Das war nicht immer so, wie ein Blick in die Sitzungsprotokolle des Gemeinderats von Lienzingen zeigt. Der heute praktizierte Schullastenausgleich hat nach meinem Aktenstand 1962 den bis dahin gewährten Gastschulbeitrag abgelöst, antwortete mir Norbert Brugger, Dezernent beim Städtetag Baden-Württemberg, auf meine Anfrage.

Tatsächlich beschloss der Lienzinger Gemeinderat am 15. Januar 1960, bei der Stadt Mühlacker einen Antrag auf Zulassung von Lienzinger Volksschülern zur dortigen Mittelschule zu stellen und die dabei entstehenden anteiligen Unterrichtskosten zu übernehmen. Die Eltern der in Frage kommenden Schüler haben sich zu verpflichten, an den Unterrichtskosten ein Drittel zu übernehmen. - Soweit die Entscheidung.

Für begabte Lienzinger Schüler

Der Ortsschulrat der seinerzeit selbstständigen Gemeinde hatte die Initiative ergriffen und den Gemeinderat gebeten, für begabte Lienzinger Schüler den Zugang zur Mittelschule zu ermöglichen. Vor dem Ortsschulrat hatte Bezirksschulrat Friedrich Wißmann laut Protokoll der Gemeinderatssitzung erläutert, jetzt könnte der Weg zur Mittelschule Mühlacker für die Nachbargemeinden geöffnet werden, wenn die Gemeinden ihrerseits einen Antrag stellten. Der Besuch der Mittelschule eröffne größere berufliche Chancen. Da der Besuch der Mittelschule aller Voraussicht nach nicht besonders zahlreich wäre, gemessen am Besuch des Gymnasiums, so würden die Ausbildungskosten für die Gemeinde nicht besonders hoch kommen, so zitiert ihn Bürgermeister Richard Allmendinger in seinen Aufzeichnungen von den Beratungen.

Aktive Lienzinger Grundschule: Fest zum Ortsjubläum 2016.

Laut Niederschrift der Sitzung nahm an ihr auch der Leiter der Volksschule Lienzingen, Kießling, teil. Er warb für den Antrag. Natürlich sei der Zeitpunkt für den Vorstoß nicht gerade günstig, da die Gemeinde augenblicklich ein neues Schulhaus baue. Doch auch bei den Eltern sei ein verstärkter Wunsch sichtbar nach möglichst guter Ausbildung für ihre Kinder. Die Kosten für die Gemeinde pro Jahr und Schüler gab Kießling mit höchstens 150 Mark an. Das Ortsparlament stimmte zu, verlangten aber von den Eltern, einen Teil der Kosten zu übernehmen - Letzteres eine Lienzinger Spezialität  (Stadtarchiv Mühlacker, STAM, Li B 326, S.2).

Vaihinger nach Mühlacker

Ein ähnliches Thema beschäftigte am 28. Februar 1961 auch den Mühlacker Gemeinderat. Schüler aus Vaihingen sollten in die Klassen 5 und 6 des Mittelschulzuges aufgenommen werden — letztlich zur besseren Auslastung, denn dadurch dürften keine zusätzliche Klasse gebildet werden müssen. Allerdings wollte die Stadt Vaihingen, über den Gastschülerbeitrag des Landes hinaus, nichts bezahlen, zumal es sich nur um eine Übergangslösung handle und dies zudem die Stadt Bietigheim bei auswärtigen Schülern seit Jahren praktiziere.  Der Stadt Mühlacker entstünden dadurch keine zusätzlichen persönlichen Ausgaben, argumentierten die Vaihinger. Mühlacker verzichtete auf die zuerst beschlossene Kostenbeteiligung. Gleichzeitig sicherte Bürgermeister Fuchslocher zu, sich bei Land und Kreis für eine echte Schullastenverteilung bezüglich der Mittelschule einzusetzen.

Mühlacker zuerst

Stadtrat Joseph Mayer wird im Protokoll mit der Aussage zitiert, ohne Rücksicht auf die schulischen Verhältnisse der Nachbargemeinden und die bestehenden gutnachbarlichen Verbindungen würden in erster Linie die Belange und das Wohl der ortsansässigen Schüler berücksichtigt werden müssen, die Aufnahme auswärtiger Schüler dürfe nicht zu Lasten der hiesigen Kinder erfolgen. Nachdrücklich für den Vertrag plädierten die Stadträte Wißmann, Maneval und Bergle: Der Vertrag mit Vaihingen - immerhin die Kreisstadt - sei möglich und tragbar (STAM, GR 74, Bl. 23).

Eine Schule, zwei Namen: Zuerst Mittel-, dann Realschule

Wieviel Lienzinger letztlich von der Volksschule auf die Mittelschule 1960 oder 1961 wechselten, lässt sich den weiteren Protokollen nicht entnehmen.

Wie viel darf es sein? Und wer zahlt mit?

Und 2020: Wer darf entscheiden, auf welche Schule das Kind nach der Grundschule geht? Die Eltern? Oder die Lehrer? In Baden-Württemberg kocht dieser Streit gerade wieder hoch. Zerstritten sind nicht nur Politiker, Eltern und Lehrer, sondern auch Lehrerverbände untereinander. Das Thema ist nicht nur im "Ländle" ein Dauerpolitikum - mit verhärteten Fronten, teasert Spiegel Online. An eine Mitsprache der Kommunen denkt niemand, die werden nicht einmal erwähnt. Können sie überhaupt steuern? Nach Lage der Dinge bei weiterführenden Schulen nicht. Aber sie sollen quasi die Hardware planen und bezahlen. Wie viel darf es sein?

Vor allem: Wer bezahlt mit?

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