Gysi über Gysi: Wild entschlossen

Gysi-Erinnerungen (Büchergilde Gutenberg)

Politiker, Jurist, Alleinerziehender, Unterhalter, Moderator, Vermittler, Selbstdarsteller, Autor: Gregor Gysi. Seine Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“ liest sich gut, seine Selbstironie erhöht den Lesegenuss, der Inhalt wird nie langweilig, lässt auch Menschen mit kritischer Distanz zu diesem prominenten Kopf der Linken das Buch nach 574 Seiten mit dem sicheren Gefühl zur Seite legen, die Zeit damit nicht nutzlos verbracht zu haben. Der Erkenntnisgewinn mag graduell unterschiedlich sein, bei Null ist er jedenfalls nie. „Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen“, heißt es in seinem Prolog. Der 70-Jährige kündigt an, politisch wahrnehmbar zu bleiben. Ältere Menschen warne er gern davor, sich nur noch über Krankheiten zu unterhalten. „Denn die Folge dessen besteht - weiß Gott - nicht darin, dass man gesünder wird.“

Doch unverhofft kommt auch hier. Irgendwann 1989/90 sieht er ein, dass sein politisches Biotop nicht mehr zu halten ist, startet als Nachfolger von Egon Krenz im Vorsitz der SED das Rettungsunternehmen für die Ex-Staatspartei, die sich bald in Partei des demokratischen Sozialismus, später in Die Linke umbenannt und längst in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen ist. Gysi schildert seine Drahtseilakte und Schachzüge, verdeutlicht frühere und aktuelle Konfliktlinien, streut Anekdoten ein, betont seinen ständigen Willen zu einem friedlichen Übergang und ist mächtig stolz, dass ihm dies auch Willy Brandt und Wolfgang Schäuble bescheinigten.

Gysi lässt den Leser in die Rolle dessen schlüpfen, der stiller Zuschauer sein darf des Familienlebens der deutschen Linken, nimmt ihn auch mit zu seinen Reisen und Gesprächen mit Arafat, Castro, Gorbatschow & Co., stellt sich meist selbst ein gutes Zeugnis aus. Er erscheint nicht als der Mann mit großen Selbstzweifeln, ist geistig beweglich, amüsant und schlagfertig, bedient auch die Ost-Nostalgiker: „Immer wieder gräbt man nach Belegen des Diktatorischen - als müsse man mit allen Mitteln die Unwirtlichkeit des Staates beweisen, in dem man nur als  vermeintlicher Westbürger oder feiger Anpasser überdauern konnte.“ Das ist einer der Kernanliegen des Gregor Gysi.

Man muss diese Meinung nicht teilen, aber den Blick auf seine Sicht der Dinge wagen. Das Urteil muss jede(r) für sich fällen. Auch nach dem Lesen seiner Erinnerungen teile ich seine Auffassung nicht, zumal bei ihm der Schießbefehl an der Mauer nur als Beiwerk vorkommt.
Was andere dazu meinen:

https://www.perlentaucher.de/buch/gregor-gysi/ein-leben-ist-zu-wenig.html

Gysi strotzt vor Selbstbewusstsein auf jeder Seite, meint Daniela Münkel in ihrer Besprechung. Ob der Autor dem Wehrdienst in der NVA entkommt oder das Überleben der SED sichert, er zeigt sich als eloquenter wie raffinierter Jongleur zwischen den Systemen. Auch wenn das vereinigte Deutschland, namentlich der Deutsche Bundestag, es Gysi und seinen Parteigenossen nicht leicht machte: Gysi ging aus allem zäh und pfiffig hervor. Kritische Distanz zur DDR oder Selbstkritik des regimekonformen Anwalts Gysi darf der Leser nicht erwarten, warnt die Rezensentin. Der Autor erzählt sein Leben mit irritierender Leichtigkeit, wenngleich auch lesenswert und anschaulich. (FAZ, 16.01.2018)

Jens Jessen liest Gregor Gysis Autobiografie als "Schelmenroman", in dem er dem Helden von Abenteuer zu Abenteuer folgt - allerdings mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass Gysi aus einer Familie von Chefärzten, Bankiers, Großindustriellen, baltendeutschem und russischem Adel entstammt und aufgrund dessen immer wieder auf Ressentiments stieß. Gemeinsam mit Gysi blickt er hier auf ein Leben, geschildert aus der Außenseiter-Perspektive, in dem der Held scheinbar nur die Entscheidung, Rechtsanwalt zu werden, selbst traf, der Geringschätzung des Berufs in der DDR mit "clownesker Unverschämtheit" entgegentrat, überrascht auch im Westen "Herkunftsressentiments" begegnet. (Zeit, 07.12.2017)

Wer so viel Eitelkeit nicht mag, der kann sie auch als Selbstschutz des Autors gegen all die Anfeindungen gegen seine Person verstehen, meint Lukas Wallraff. Ihm hat die kindliche Freude, mit der der Autor seine tragende Rolle 1989 oder bei der Hauptstadtentscheidung herausstellt, durchaus Freude gemacht. Stasi-Vorwürfe? Kommen hier eher nicht zur Sprache, meint Wallraff und ist nicht verwundert. Nur dass Gysi den Schießbefehl nicht beim Namen nennt, macht ihn wuschig. Beim Thema Linkspartei wieder gefällt ihm Gysis Plädoyer fürs Praktische und gegen das Dogmatische. (TAZ, 28.10. 2017)

Franziska Augstein sympathisiert mit diesem Abkömmling aus der höchsten Partei-Aristokratie der DDR: "Elitärer als Gysi konnte man in der DDR nicht heranwachsen", konstatiert sie, und ist sofort bereit, Gysi seine Eitelkeit, der er sich selbst bewusst sei und die er beherrsche, zu verzeihen. Mehr noch: "Diese Autobiografie ist ehrlich.“ (Süddeutsche Zeitung, 10.10.2017)

Gregor Gysi hat ein Problem. Für seine Lebensgeschichte bräuchte er eigentlich mehrere Bücher. Er hat aber zunächst einmal nur das eine. Und hier versucht er also möglichst viel unterzubringen. Das gelingt ihm immerhin, wenngleich er vieles nur anreißen kann. Gysi hatte das Glück, eine aufregende Zeit nicht nur mitzuerleben, sondern auch gestalten zu dürfen. Er führte die SED durch die Wirren der Wende, richtete sie neu aus und ließ sich dafür beschimpfen. Dazu gehörte oft der Verdacht, IM gewesen zu sein. (MDR Kultur 18.10.2017)

Kaum ein deutscher Politiker wurde so geschmäht, kaum einer schlug sich so erfolgreich durchs Gestrüpp der Anfeindungen – hin zu einer anerkannten Prominenz: In seiner Autobiographie erzählt Gregor Gysi von seiner Kindheit und Jugend, schildert seinen Weg zum Rechtsanwalt, gibt Einblicke in sein Verhältnis zu Dissidenten (»Bahro war mein spannendster Fall.«) und in die Spannungsfelder an der Spitze von Partei und Bundestagsfraktion. Vor allem aber berichtet er von der erstaunlichen Wendung, die sein Leben mit dem Herbst 1989 nahm: Der Jurist wird Politiker. »Einfach wegrennen, das wollte ich nie«, sagt Gysi und trifft damit einen Kern seines Wesens: Widersprüche aushalten. (Waschzettel Aufbau-Verlag)

Gregor Gysi, „Ein Leben ist zu wenig“, Autobiographie, Aufbau-Verlag Berlin, : 978-3-351-03684-3, 24.00 Euro

(Auch als Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main) https://www.buechergilde.de/suche.html?keywords=Gysi<

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