Von Flüchtlingen, Integration und Grenzen

Das lieben wir: Einen Blick zu werfen hinter die Kulissen der Macht, dabei das Gefühl zu haben, als seien wir selbst dabeigesessen. Robin Alexander, der Journalist der Welt, verdichtet in seinem Bestseller „Die Getriebenen - Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht“  durch viele Details und Szenenbeschreibungen die Vorgänge um die Öffnung der Grenzen im September 2015 und der Folgen einer unkontrollierten Zuwanderung zu einer spannenden Geschichte. Sie macht eines deutlich: Die großen Unzulänglichkeiten, ja die zeitweise Hilfslosigkeit der Kanzlerin, ihrer Regierung, der Koalitionspartner in der GroKo und der Europäischen Union, die Lage im Herbst 2015 rechtzeitig zu meistern.  Das Unvermögen von Merkel, einen klaren Kurs zu steuern, weil schwankend zwischen der im Volk zunächst vorhandenen Willkommenskultur und der danach sich verstärkenden Ängste vor zu großer Zuwanderung. Eine Zauderin der Macht, wie ich es vor dem Lesen dieses Buches für nicht möglich hielt. Zwangsweise in der Koalition zusammengespannt mit dem CSU-Parteivorsitzenden Seehofer, der in einer schwierigen Phase der sich abzeichnenden Krise in seinem Ferienhaus abtaucht und für die Kanzlerin nicht erreichbar ist - beleidigt, weil die CDU-Parteichefin nicht zur 100-Jahr-Geburtstagsfeier für Franz Josef Strauß gekommen war. Kindereien, wie auch das ständige Belauern Merkels durch SPD-Boss Siegmar Gabriel, der in der Öffentlichkeit immer mit einer Aktion oder einem flotten Spruch mehr die Regierungschefin zu übertrumpfen versucht.

Besonders erschreckend: Der Bundestag und damit unsere gewählten Vertreter bleiben Randfiguren, ferngehalten von Entscheidungen in einer das Volk bald tief spaltenden Entwicklung. Der Autor: „Merkel hat Gründe, so zu handeln, wie sie handelt. Aber keine Bundestagsdebatte, kein Kabinettsbeschluss, kein Parteitag und kein Wahlsieg hat legitimiert, was an diesem 4. September seinen Anfang nimmt.“ Die Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge, ohne dass kontrolliert wird. Und als gelegentlich CDU/CSU-Abgeordnete eine Korrektur der Merkelschen Flüchtlingspolitik und damit die Einführung von Grenzkontrollen fordern, werden sie von den Kauders der Union abgebürstet. In all dieser Zeit des Nicht-Handelns, Taktierens, Intrigierens, Spekulierens auf den Deal mit der Türkei und dem Schließen der Balkanroute in Berlin und Brüssel wissen Landkreise wie unser Enzkreis nicht wohin mit den Menschen, die ihnen aus den Erstaufnahmestellen des Landes zugewiesen werden. „Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung der Grenzen übernimmt“, heißt es in dem Buch.

Viel zu spät kommen die Grenzkontrollen doch, die Merkel lange als nicht möglich bezeichnet hatte. Natürlich schaffen es die Kommunen und ihre funktionierenden Verwaltungen, die Dinge geordnet abzuwickeln, aber in den entscheidenden Monaten laviert Merkel noch. Das macht die hervorragend recherchierte Arbeit von Robin Alexander deutlich. Ein  Enthüllungsbuch. Wichtiger Lesestoff über das Versagen der Politik, den Schwankungen der Volksseele, zu spät ansetzende Reaktionen der Verantwortungsträger, über Vertrauensverlust, aber auch über seltene Momente, in denen die Kanzlerin ihr Inneres nach außen wendet. Der Autor sagt selbst,  er wolle aufzeigen, „unter welchen Umständen und in welchen Zwängen die politisch Verantwortlichen handelten“.  Beide Seiten würden enttäuscht sein, die, die Merkel verteidigen und jene, die sie wegen eines sechsmonatigen Ausnahmezustandes attackieren.  „Es erzählt weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück.“ Aber ein Polit-Krimi.

Die Folgen der Flüchtlingswelle, von der Merkel, inzwischen sagt, eine Ausnahme gewesen zu sein, müssen vor allem die Kommunen tragen. Fehlende Wohnungen, Platznöte in Kindergärten und Schulen. Bei der jüngsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses des Enzkreises hieß es von der Verwaltung, ein Großteil der Menschen werde wohl auf Dauer von Hartz IV leben. Vergessen die im Buch zitierten wohlfeilen Sprüche vom Herbst 2015 wie die von Daimler-Chef Dieter Zetsche, der eine Woche nach der Grenzöffnung sogar prophezeite, im besten Falle könne es auch eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden. Robin Alexander: „In diesen Wochen entsteht in vielen Köpfen die Vorstellung, dass es sich bei den Flüchtlingen nicht um Erschöpfte, Kranke, Traumatisierte und teilweise Radikalisierte handelt, sondern um eine Armee von fröhlichen Landärzten und künftigen Facharbeitern, die sich im Anmarsch befindet, um die Deutschen gerade rechtzeitig noch aus der demographischen Falle zu retten.“  Was für ein kapitaler Irrtum.

Robin Alexander, „Die Getriebenen - Merkel und die Flüchtlingspolitik“ Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten,13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-8275-0093-9, Verlag: Siedler. 19,99 Euro

Dazu passt das im selben Verlag erschienene Buch des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer„Wir können nicht allen helfen - Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“. Nachdem Angela Merkel hunderttausende Flüchtlinge ins Land ließ, stellt sich nun die Frage: Wie kann es uns gelingen, die riesige Herausforderung der Integration zu meistern? Boris Palmer, zeigt, dass wir bei aller Hilfsbereitschaft auch offen über die Grenzen der Belastbarkeit sprechen müssen – etwa über Bildungs- und Jobchancen, über Wohnungsnot, den Umgang mit Gewalt und Abschiebung oder Fragen von Ordnung und Sicherheit. Denn nur wenn wir die Probleme offen benennen, können wir den Rechtspopulisten das Wasser abgraben. Der OB ist  Pragmatiker. So stimmt er auch dem Soziologen Heinz Bude zu, der zwei Wochen nach Grenzöffnung sagte, Deutschland werde seinen Flüchtlingsidealismus nicht lange durchhalten können, sondern werde zu einem Flüchtlingspragmatismus kommen müssen. Palmer denkt an jene Mensche, die händeringend eine Wohnung suchen und denen er in seinen Sprechstunden meist nicht helfen könne, die aber nun eine Konkurrenz durch die Flüchtlinge fürchten. Aber auch an Menschen, die Angst haben vor Islamismus, Terror und Kriminalität. Trotzdem lehnt Palmer starre Grenzen bei den Flüchtlingszahlen ab. Die Grenze der Belastbarkeit werden nach Palmers Überzeugung nicht im Bundestag bestimmt, sondern vor Ort in den Kommunen am konkreten Projekt. Eine Position, die Integration zulässt und fördert, aber die Menschen in den Gemeinden nicht überfordert. Da schreibt einer, dem der Frieden in den Kommunen wichtig ist. 


Boris Palmer „Wir können nicht allen helfen -Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“ Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 256 Seiten,13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-8275-0107-3, Verlag: Siedler. 18,00 Euro

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